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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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das Klügste zu sein. Sie sagte darauf: »Wenn du dich nicht an mich erinnern kannst, hast du wohl alles vergessen«, beließ es aber dabei, fügte nur hinzu: »Dann warst du vorigen Sommer wohl gar nicht im Haus deiner Großmutter. Dann hast du wohl auch das vergessen.«
    Es hieß Großmutter Haus, auch in jenem Sommer, als mein Großvater noch lebte. Er hatte sich in ein Zimmer zurückgezogen, das größte vordere Schlafzimmer. Es hatte hölzerne Fensterläden auf der Innenseite der Fenster, genau wie das Wohnzimmer und das Esszimmer; die übrigen Schlafzimmer hatten nur Rouleaus. Außerdem hielt die Veranda das Licht ab, so dass mein Großvater den ganzen Tag über im Halbdunkel lag, mit seinen weißen Haaren, gewaschen, gepflegt und weich wie die eines Babys, seinem weißen Nachthemd und den weißen Kissen, eine Insel, der sich alle entschlossen, aber behutsam näherten. Mary McQuade in ihrer Uniform war die andere Insel, saß meistens unbeweglich dort, wo der Ventilator, als wäre er müde, die Luft umrührte wie Suppe. Es muss zu dunkel gewesen sein, um zu lesen oder zu stricken, hätte ihr der Sinn danach gestanden, also wartete sie nur und atmete, machte ein Geräusch wie der Ventilator, voll alter, unbestimmbarer Klagen.
    Ich war damals noch so klein, dass ich zum Schlafen in ein Kinderbettchen gelegt wurde – nicht zu Hause, nur bei meiner Großmutter –, in einem Zimmer gegenüber der Diele. Darin gab es keinen Ventilator, und das gleißende Licht von draußen – von den flachen Feldern rings ums Haus, die unter der Sonne hell wie Wasser glitzerten – bildete blitzende Spalten um die heruntergezogenen Rouleaus. Wer konnte da schlafen? Die Stimmen meiner Mutter, meiner Großmutter und meiner Tante webten ihre üblichen Wiederholungen auf der Veranda, in der Küche und im Wohnzimmer (wo meine Mutter mit Hilfe einer kleinen Bürste mit Messinggriff die weiße Tischdecke säuberte und wo über dem runden Tisch die Deckenlampe herunterhing mit Blumen aus dickem Karamellbonbonglas). All die Mahlzeiten in diesem Haus, das Kochen, die Besuche, die Gespräche, sogar jemand, der Klavier spielte (das war meine jüngste Tante, Edith, unverheiratet, Nita, Juanita, sanft und still neigt sich der Mond , sang sie und spielte dazu mit einer Hand); all dies Leben, das seinen Gang nahm. Doch die Decken der Zimmer waren sehr hoch, und darunter war viel dämmriger, unnützer Raum, und wenn ich schwitzend und schlaflos in meinem Bettchen lag, konnte ich hochschauen und diese Leere sehen, die fleckigen Ecken, und ohne zu wissen, was es war, spürte ich, was auch alle anderen im Haus gespürt haben müssen – die schweißtreibende Hitze barg den Tod, jenes Klümpchen magisches Eis, und Mary McQuade wartete in ihrem gestärkten weißen Kleid, selbst groß und düster wie ein Eisberg, wartete und atmete unnachgiebig. Ich gab ihr die Schuld.
    Also tat ich so, als könnte ich mich nicht an sie erinnern. Sie hatte nicht ihre weiße Uniform angezogen, was sie kaum weniger gefährlich machte, aber zumindest bedeuten konnte, dass die Zeit ihrer Macht noch nicht gekommen war. Draußen im Tageslicht war zu sehen, dass sie Sommersprossen hatte, nicht nur im Gesicht, überall, als wäre sie mit Hafermehl bestreut, und sie trug eine Krone aus krausen, funkelnden, von Natur aus messingfarbenen Haaren. Ihre Stimme war laut und heiser, ihre natürliche Ausdrucksform war die Beschwerde. »Muss ich die Wäsche ganz alleine aufhängen?«, schrie sie mich im Garten an, und ich folgte ihr zu der Plattform mit der Wäscheleine, wo sie stöhnend den Korb mit nasser Wäsche abstellte. »Reich mir die Wäscheklammern zu. Immer nur eine auf einmal. Mit der richtigen Seite nach oben. Ich dürfte bei dem Wind gar nicht draußen sein, bei meinen schwachen Bronchien.« Mit gesenktem Kopf, wie ein an sie gekettetes Tier, reichte ich ihr die Wäscheklammern.Draußen, in der kalten Märzluft, verlor sie etwas von ihrer Massigkeit und von ihrem Geruch. Im Haus konnte ich sie immer riechen, sogar in den Zimmern, die sie selten betrat. Wie war ihr Geruch? Er war wie Metall und wie ein dunkles Gewürz (Nelken – sie litt an Zahnschmerzen) und wie das Mittel, das mir auf die Brust gerieben wurde, wenn ich erkältet war. Ich sprach einmal zu meiner Mutter davon, die es abtat: »Stell dich nicht so an, ich rieche nichts.« Also sagte ich nichts von dem Geschmack, es gab nämlich auch einen Geschmack. Er war in allen Speisen, die Mary McQuade zubereitete,
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