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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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mahnte Adeline.
    »Wo ist Tante Lisbeth?«
    »Sie liegt im Bett!« berichtete Hortense. »Sie wird nicht wieder aufstehen, und wir werden bald um sie trauern müssen. Sie hofft, dich nach Tisch bei sich zu sehen.«
    Am nächsten Morgen frühzeitig wurde Viktor von Hulot von seinem Hausmeister in Kenntnis gesetzt, daß ein Gerichtsvollzieher und ein Stadtgendarm den Baron suchten. Man präsentierte dem jungen Hulot eine Vollstreckungsurkunde und fragte ihn, ob er für seinen Vater zahlen wolle. Es handelte sich um einen Wechsel von zehntausend Francs, die irgendein Wucherer ausgeklagt hatte. Wahrscheinlich hatte der Baron höchstens zwei- bis dreitausend Francs bar erhalten. Viktor ersuchte den Gerichtsvollzieher, den Gendarmen wegzuschicken, und bezahlte.
    Ob das auch alles sei, fragte er sich besorgt.
    Lisbeth, die sich über jedes der Familie widerfahrene Glück aufregte, vermochte das freudige Ereignis der Rückkehr nicht zu ertragen. Ihr Zustand verschlimmerte sich derartig, daß ihr der Doktor Bianchon nur noch acht Tage Frist gab. So unterlag sie schließlich nach einem langen Kampfe, der ihr vordem manchen Sieg gebracht hatte. Das Geheimnis ihres wilden Hasses aber bewahrte sie durch den furchtbaren Todeskampf der Lungenschwindsucht hindurch bis in den Tod. Dafür hatte sie die fragwürdige Genugtuung, Adeline, Hortense, Hektor, Viktor, Stanislaus, Cölestine und die Kinder weinend um ihr Sterbebett versammelt zu sehen. Man beklagte den Schutzengel der Familie.
    Der Baron war infolge der ihm verordneten kräftigen Ernährung, die er in den letzten drei Jahren entbehrt hatte, zu neuen Kräften gekommen. Er sah fast wieder aus wie ehedem. Diese Wiederherstellung beglückte Adeline außerordentlich. Auch ihre nervösen Zuckungen ließen etwas nach.
    »Sie wird am Ende wieder glücklich!« stöhnte Lisbeth bei sich am Tage vor ihrem Tode, als sie wahrnahm, wie verehrungsvoll Hulot seine Frau behandelte. Viktor und Hortense hatten ihm erzählt, wie sehr Adeline gelitten hatte. Die bittere Empfindung darüber beschleunigte Tante Lisbeths Ende.
    Viktor setzte seiner Schwester aus dem Familiengut ein Jahrgeld von zwölftausend Francs aus. Stanislaus blieb ihr fortan treu, aber er führte das Dasein eines Nichtstuers und brachte nicht das kleinste Werk mehr zustande. Der unproduktive Künstler begnügte sich mit seinen Salonerfolgen. Er verstand es, wundervoller denn je über die Künste zu plaudern, und man hielt auf sein Urteil.
    Allgemein gab man sich der Hoffnung hin, daß der Baron sein galantes Leben abgeschlossen habe. In der Tat schien er auf das schöne Geschlecht zu verzichten. Alt genug war er. Um so mehr genoß man seine liebenswürdigen, bestrickenden Eigenschaften. Er war voll Aufmerksamkeiten gegen seine Frau und seine Kinder, begleitete sie ins Theater und in die Gesellschaften und empfing im Hause seines Sohnes die Gäste mit erlesener Urbanität. Mit einem Worte, das verlorene und wiedergewonnene Familienoberhaupt bereitete den Seinen die größte Befriedigung. Er erschien als feiner alter Herr, körperlich nicht mehr auf der Höhe, geistig jedoch frisch. Von seinem Vorleben hatte er nur die geselligen Elemente beibehalten. Man hob ihn in der ganzen Familie in den Himmel und vergaß den Tod zweier Onkel. Das Leben ist eine Kette von Vergessenheiten.
    Zu Beginn des Dezembers 1845 nahm Cölestine zur Unterstützung des Kochs ein neues Küchenmädchen in ihre Dienste, eine derbe Person aus der Normandie, aus Isigny, ein kleines stämmiges Ding mit dicken roten Armen und einem gewöhnlichen Gesicht. Sie war erzdumm und hatte die Körperfülle einer Amme. Es sah aus, als ob ihr strammer Busen die Kattunbluse zersprengen wollte.
    Man achtete im Hause natürlicherweise gar nicht weiter auf den Einzug des ländlichen Geschöpfes. Agathe hieß sie. Selbst der Koch fand keinen Gefallen an ihr; sie war ihm in ihrer bäuerlichen Ausdrucksweise zu roh. Er verachtete sie. Übrigens hatte er eine Liebelei mit Luise, der Kammerjungfer der Gräfin Steinbock.
    Einmal nachts wachte Adeline durch ein merkwürdiges Geräusch auf. Da bemerkte sie, daß Hektor nicht in seinem Bette war, das neben dem ihren stand. Nachdem sie eine ganze Stunde auf sein Wiederkommen gewartet hatte, begann sie sich zu ängstigen. Es konnte ihm ja ein Schlaganfall oder ein Unglück widerfahren sein. Sie stand auf und stieg nach den Bodenkammern hinauf, wo die Dienstboten schliefen. Aus der nur angelehnten Kammer Agathes drang ihr Licht
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