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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Ich bin ein Einsiedler und komme aus der Wüste mit der Sendung, für den Wiederaufbau eines heiligen Asyls Spenden zu sammeln.«
    Diese Erscheinung und ihre Reden riefen Viktor die dunklen Worte der Frau Nourrisson in sein Gedächtnis zurück. Er erschrak heftig.
    »Führen Sie den alten Mann da draußen zu mir herein!« befahl er dem Diener, der die Lampe brachte.
    »Zu Befehl, Herr Baron! Ich habe es mir nicht getraut. Er kommt, wie er sagt, aus Syrien und hat seitdem sein Gewand nicht abgelegt. Er trägt nicht einmal ein Hemd ...«
    »Bringen Sie ihn herein!« wiederholte Viktor.
    Der Greis erschien im Zimmer. Der junge Hulot maß ihn, den angeblichen Einsiedler auf der Pilgerreise, mit einem mißtrauischen Blicke. Der Mann sah verlumpt und zerfetzt aus wie ein neapolitanischer Bettelmönch.
    »Was wünschen Sie von mir?«
    »Was Sie für Ihre Pflicht halten, mir zu geben!«
    Viktor nahm ein Fünffrancsstück aus der Tasche und gab es dem Fremden.
    »Als Abschlagssumme auf fünfzigtausend Francs ein bißchen wenig!« bemerkte der Bettler aus der Wüste.
    Bei diesen Worten verflog Viktors Ungewißheit.
    »Hat der Himmel denn sein Versprechen gehalten?« fragte er ungehalten.
    »Zweifel ist Sünde, mein Sohn!« ließ sich der Einsiedler vernehmen. »Aber Sie sind in Ihrem Recht. Sie brauchen erst nach dem Begräbnis zu zahlen! Ich komme in acht Tagen wieder.«
    »Begräbnis?« wiederholte Viktor.
    »Der Tod hat in Paris schnelle Beine!«
    Ehe der nachdenklich gewordene Hulot weitere Worte fand, war der alte Mann aus dem Zimmer geschlüpft.
    Wie soll ich das Rätsel verstehen? fragte er sich selbst. In acht Tagen! Woher nimmt die Frau Nourrisson – oder wie sie heißt – solche Komödianten?
    Am Tage darauf erlaubte Doktor Bianchon der Baronin zum ersten Male, in den Garten zu gehen. Er begleitete sie zusammen mit Hortense, um die Wirkung der freien Luft auf die Rekonvaleszentin nach achtmonatiger Abgeschlossenheit hauptsächlich in Hinsicht auf ihre nervösen Zückungen zu beobachten. Adelines Nervenleiden interessierte ihn in hohem Grade.
    Eben hatte der berühmte Arzt auch Tante Lisbeth genau untersucht, die seit vier Wochen eines Luftröhrenkatarrhs wegen das Zimmer hüten mußte. Er war sich aber über die Tragweite dieser Erkrankung selbst noch nicht klar genug, um darüber sprechen zu können.
    »Sie haben ein Leben mit recht viel und recht trauriger Arbeit«, bemerkte die Baronin. »Ich weiß, was es heißt, den ganzen Tag über Elend und körperliche Schmerzen vor sich zu sehen.«
    »Gnädige Frau«, entgegnete der Arzt, »ich kenne die Bilder, die zu sehen Sie durch Ihre schöne barmherzige Tätigkeit gezwungen sind. Mit der Zeit werden Sie sich daran gewöhnen, wie wir uns alle daran gewöhnen. Das ist soziale-Notwendigkeit. Der Geist, der die menschliche Gemeinschaft zusammenhält, bringt es zuwege. Sehen Sie! Die gründliche Kenntnis der menschlichen Schattenseiten schafft die wahrhaft überlegenen Menschen, die, die alles verstehen und alles verzeihen. Der Soldat, der im Feuer der Schlacht gestanden hat, wird zum guten Menschen. Indem ich diese Folgen an mir beobachte, empfinde ich in meinem Beruf eine Befriedigung, wie sie mancher andern Tätigkeit nicht beschert sein mag.«
    »Sie gehen selten Zerstreuungen und Vergnügungen nach?« fragte Hortense.
    »Der rechte Arzt ist ein Enthusiast seiner Wissenschaft«, gab Bianchon zur Antwort. »Die Erfahrungen meiner Praxis sind zugleich meine Freuden. Gerade jetzt sehen Sie mich im Genusse einer solchen Gelehrtenfreude, wegen der mich mancher oberflächliche Beobachter für herzlos halten könnte. Morgen will ich der Ärzte-Akademie einen interessanten Fall vortragen. Ich beobachte nämlich zur Zeit eine Krankheit, die man für nicht mehr vorkommend gehalten hat, übrigens eine tödliche Krankheit, zumal in unserm gemäßigten Klima. In den Tropen soll es Mittel dagegen geben. Es ist eine der Seuchen des Mittelalters. Der Kampf des Arztes gegen solch eine Krankheit ist etwas Wundervolles. Seit zehn Tagen denke ich an nichts anderes mehr als an meine beiden Kranken. Es ist ein Ehepaar. Ich glaube, es sind entfernte Verwandte von Ihnen: Herr und Frau Crevel...«
    »Mein Vater!« rief Cölestine erschrocken aus. »Rue Barbet-de- Jouy?«
    »Ganz recht«, erwiderte der Arzt.
    »Die Krankheit ist tödlich, sagen Sie? Ich muß sofort zu ihm!«
    »Das muß ich Ihnen auf das entschiedenste untersagen, gnädige Frau!« erklärte Bianchon im ruhigsten Ton. »Die
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