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Tango Vitale

Tango Vitale

Titel: Tango Vitale
Autoren: Eva Wlodarek
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glücklichsten werden und gleichzeitig ihrer Umwelt mit ihrer Fähigkeit am meisten dienen. Das gilt nicht nur für Ausnahmetalente, sondern ebenso für normal begabte Menschen. Nur fällt es bei außergewöhnlichen – etwa aus dem Bereich Erfindung, Politik oder Kunst – besonders auf. Wohl auch deshalb, weil deren Biografien allgemein bekannt sind.
     
    Ich stand im MOMA in New York und hoffte nur, dass die Menschen um mich herum glaubten, ich wäre erkältet. Es war mir peinlich, aber |19| tatsächlich schniefte ich in mein Taschentuch, weil mir vor Ergriffenheit die Tränen kamen. Das Museum zeigte eine große Retrospektive der Werke von Henri Matisse, einem meiner Lieblingsmaler. Sein Alterswerk, die berühmten gouaches découpées (Scherenschnitte), waren so voller Farben und Licht, wie sie kein noch so guter Druck in einem Kunstbuch wiedergeben kann. Mit beinahe 80 Jahren hatte Matisse eine Technik entwickelt, mit der Schere Formen direkt in leuchtend buntes Papier zu schneiden. Ich konnte mich kaum davon losreißen, so intensiv wirkte die Schönheit auf mich. Dass diese wunderbaren Kunstwerke überhaupt existieren, ist dem Schicksal zu verdanken. Wenn es nicht rigoros eingegriffen hätte, hätte es vermutlich nur einen mittelmäßigen Juristen Matisse gegeben.
    Henris Vater führt eine Drogerie und handelt außerdem mit Pflanzensamen. Ihm liegt daran, dass Henri eine gute Schulbildung bekommt, und so schickt er ihn auf ein Gymnasium. Nachdem der Sohn die Schule beendet hat, beschließt er, Jura zu studieren. Im Anschluss beginnt er als Anwaltsgehilfe. Und dann kommt das Schicksal ins Spiel: Nach einer Blinddarmoperation muss Henri ein Jahr lang das Bett hüten. Eine langweilige Angelegenheit für einen jungen Mann. Seine Mutter überlegt, womit er sich wohl die Zeit vertreiben könnte, und bringt ihm, der sich schon nebenbei für Zeichnen interessiert hat, einen Malkasten mit. Das ist die Initialzündung. Wieder genesen, lässt Henri seine Karriere als Jurist sausen, meldet sich in einer Kunstakademie an und widmet sich nur noch der Malerei. Henri Matisse wird einer der bedeutendsten Künstler der Moderne.
    Der Blick durch das Kaleidoskop
    Wenn wir nun durch das Kaleidoskop blicken, sehen wir leuchtend helle und dunkle Facetten. Das Schicksal kann zärtlich wie eine gute Mutter sein, aber auch grausam wie ein Diktator. Es kann Leben retten |20| und sinnlos zerstören. Es macht unerwartete Geschenke und bringt an die richtige Stelle, notfalls mit Nachdruck.
    Glücklicherweise zeigt uns das Schicksal nicht ständig alles, was es kann. Die meisten von uns werden im Laufe ihres Lebens nur selten mit seinen Extremen konfrontiert. Oft gibt es längere ruhige Phasen, in denen das Schicksal sich zurücknimmt und uns glauben lässt, wir hätten es im Griff. Doch dürfen wir uns davon nicht täuschen lassen. Der Blick in das Kaleidoskop des Schicksals zeigt deutlich, dass es jederzeit in positiver und negativer Weise seinen starken Einfluss geltend machen kann. Aber damit ist noch nicht die Frage beantwortet, wodurch denn diese Wirkung erzeugt wird.
    Welche Macht steht hinter dem Schicksal?
    Aus gutem Grund haben sich die Menschen schon seit Jahrtausenden darüber Gedanken gemacht, wer oder was hinter dem Schicksal steckt. Sobald wir nämlich wissen, womit wir es letztlich zu tun haben, erscheint es weniger bedrohlich. Wir sehen darin eine Möglichkeit, mehr Kontrolle zu erlangen. Dieses Ziel ist bis heute das gleiche geblieben, allerdings haben sich die Ansichten im Laufe der Zeit entscheidend gewandelt.
    Unsere antiken Vorfahren personifizierten die Macht hinter dem Schicksal, indem sie ihr die Gestalt von Göttinnen gaben. In der römischen Mythologie sitzen die Parzen Nona, Decima und Morta am Spinnrad. Dabei praktizieren sie Arbeitsteilung. Die eine spinnt den Faden, die andere misst ihn aus, und die dritte schneidet ihn ab. Was das Trio so eifrig produziert, ist das Schicksal der Menschen. Ein ähnliches Dreiergespann ist auch in der griechischen Antike dafür zuständig. Hier sind es die Moiren: Klotho spinnt den Schicksalsfaden, Lachesis teilt jedem vorab sein Los zu, und Atropos ist für die unabwendbaren Ereignisse der Zukunft zuständig. Bei den alten Germanen kümmern |21| sich die Nornen um das Schicksal, ebenfalls drei Frauen, nur dass sie nicht Fäden spinnen, sondern mit dem Weltenbaum Yggdrasil verbunden sind. Im Gilgamesch-Epos heißt es: »Davon kommen Frauen, viel wissende, drei aus dem See, dort
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