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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923
Autoren: Franz Kafka
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Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau; nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen.
    Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen und immer, wie ich es auch wende, komme ich zum Schluß, daß mir in manchem meine Erziehung schrecklich geschadet hat. In dieser Erkenntnis steckt ein Vorwurf der gegen eine Menge Leute geht. Da sind die Eltern, mit den Verwandten, eine ganz bestimmte Köchin, die Lehrer, einige Schriftsteller, befreundete Familien, ein Schwimmeister, Eingeborene der Sommerfrischen, einige Damen im Stadtpark denen man es gar nicht ansehn würde, ein Friseur eine Bettlerin, ein Steuermann der Hausarzt und noch viele andere und es wären noch mehr, wenn ich sie alle mit Namen bezeichnen wollte und könnte kurz es sind so viele, daß man achtgeben muß damit man nicht im Haufen einen zweimal nennt. Nun könnte man meinen, schon durch diese große Anzahl verliere ein Vorwurf an Festigkeit, und müsse einfach an Festigkeit verlieren, denn ein Vorwurf sei kein Feldherr, er gehe nur geradeaus und wisse sich nicht zu verteilen. Gar in diesem Falle, wenn er sich gegen vergangene Personen richtet. Diese Personen
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    mögen mit einer vergessenen Energie in der Erinnerung festgehalten werden, einen Fußboden werden sie kaum mehr unter sich haben und selbst ihre Beine werden schon Rauch sein.
    Und Leuten in solchem Zustand soll man nun mit irgendeinem Nutzen Fehler vorwerfen, die sie in früheren Zeiten einmal bei der Erziehung eines Jungen gemacht haben der ihnen jetzt so unbegreiflich ist wie sie uns. Aber man bringt sie ja nicht einmal dazu sich an jene Zeiten zu erinnern, sie können sich an nichts erinnern und dringt man auf sie ein, schieben sie einen stumm bei Seite, kein Mensch kann sie dazu zwingen, aber offenbar kann man gar nic ht von zwingen reden, denn
    höchstwahrscheinlich hören sie gar nicht die Worte. Wie müde Hunde stehn sie da, weil sie alle ihre Kraft dazu verbrauchen um in der Erinnerung aufrecht zu bleiben. Wenn man sie aber wirklich dazu brächte zu hören und zu reden, dann würde es einem von Gegenvorwürfen nur so in den Ohren sausen, denn die Menschen nehmen die Überzeugung von der Ehrwürdigkeit der Toten ins Jenseits mit und vertreten sie von dort aus zehnfach. Und wenn diese Meinung vielleicht nicht richtig wäre und die Toten eine besonders große Ehrfurcht vor den Lebenden hätten, dann werden sie sich erst recht ihrer lebendigen Vergangenheit annehmen, die ihnen doch am nächsten steht und wieder würden uns die Ohren sausen. Und wenn auch diese Meinung nicht richtig wäre und die Toten gerade sehr unparteiisch wären, so könnten sie es auch dann niemals billigen, daß man mit unbeweisbaren Vorwürfen sie stört. Denn solche Vorwürfe sind schon von Mensch zu Mensch
    unbeweisbar. Weder das Dasein von vergangenen Fehlern in der Erziehung ist zu beweisen wie erst die Urheberschaft. Und nun zeige man den Vorwurf, der sich in solcher Lage nicht in einen Seufzer verwandelte.
    Das ist der Vorwurf, den ich zu erheben habe. Er hat ein gesundes Innere, die Teorie erhält ihn. Das was an mir wirklich verdorben worden ist, aber vergesse ich vorerst oder verzeihe es
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    und mache noch keinen Lärm damit. Dagegen kann ich jeden Augenblick beweisen, daß meine Erziehung einen andern Menschen aus mir machen wollte, als den der ich geworden bin.
    Den Schaden also, den mir meine Erzieher nach ihrer Absicht hätten zufügen können, den mache ich ihnen zum Vorwurf, verlange aus ihren Händen den Menschen der ich jetzt bin und da sie mir ihn nicht geben können mache ich ihnen aus Vorwurf und Lachen ein Trommelschlagen bis in die jenseitige Welt hinein. Doch dient das alles nur einem andern Zweck. Der Vorwurf darüber, daß sie mir doch ein Stück von mir verdorben haben ein gutes schönes Stück verdorben haben – im Traum erscheint es mir manchmal wie andern die tote
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