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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer
Autoren: Frank McCourt
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Dringlichkeit. Mein Gott, ich bin ein Mann mittleren Alters und mache Entdeckungen, die der durchschnittliche intelligente Amerikaner mit zwanzig schon hinter sich hat. Die Maske ist meistens runter, ich kann atmen.
    Die Kids gehen in ihren Aufsätzen und in Diskussionen aus sich heraus, und ich bekomme eine schriftliche Führung durch das amerikanische Familienleben, von hochherrschaftlichen Häusern an der East Side bis zu Mietskasernen in Chinatown. Es ist eine Prozession der Alteingesessenen und der Neuen, und überall lauern Drachen und Dämonen.
     
    Phyllis schrieb einen Bericht darüber, wie ihre Familie den Abend verbrachte, an dem Neil Armstrong auf dem Mond landete, wie sie ständig hin und her liefen zwischen dem Fernseher im Wohnzimmer und dem Schlafzimmer, in dem ihr Vater auf dem Sterbebett lag. Hin und her. Besorgt um den Vater, nicht bereit, die Mondlandung zu verpassen. Phyllis sagte, sie sei bei ihrem Vater gewesen, als ihre Mutter rief, sie solle kommen und zusehen, wie Armstrong den Fuß auf den Mond setzt. Sie lief ins Wohnzimmer, alle jubelten und fielen sich in die Arme, bis sie diese Dringlichkeit spürte, diese alte Dringlichkeit, und ins Schlafzimmer rannte, wo sie ihren Vater tot vorfand. Sie schrie nicht, sie weinte nicht, und ihr Problem war, diesen glücklichen Menschen im Wohnzimmer mitteilen zu müssen, daß Dad von ihnen gegangen war.
    Sie weinte jetzt, als sie vor der Klasse stand. Sie hätte sich wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe setzen können, und ich hoffte, sie würde es tun, denn ich wußte nicht recht, was ich machen sollte. Ich ging zu ihr. Ich legte den linken Arm um sie. Aber das war nicht genug. Ich zog sie an mich, schloß sie in die Arme, ließ sie an meiner Schulter schluchzen. Überall tränenfeuchte Gesichter, bis jemand rief, super, Phyllis, und einer oder
zwei zu klatschen anfingen, und die ganze Klasse klatschte und rief bravo, und Phyllis drehte sich um und lächelte ihren Mitschülern zu mit ihrem nassen Gesicht, und als ich sie an ihren Platz führte, drehte sie sich um und berührte meine Wange, und ich dachte, das ist nichts Weltbewegendes, diese Berührung, aber ich werde das nie vergessen: Phyllis, ihren toten Vater, Armstrong auf dem Mond.
     
    Zuhören. Hört ihr mir zu? Ihr hört mir nicht zu. Ich wende mich an diejenigen unter euch, die sich möglicherweise für das Schreiben interessieren.
    Ihr schreibt immer, jeden Augenblick eures Lebens. Sogar in euren Träumen schreibt ihr. Auf den Gängen dieser Schule trefft ihr verschiedene Leute, und ihr schreibt im Geiste wie wild drauflos. Da ist der Rektor. Ihr müßt eine Entscheidung treffen, eine Grüßentscheidung. Werdet ihr ihm zunicken? Werdet ihr lächeln? Werdet ihr sagen, guten Morgen, Mr. Baumel?, oder werdet ihr einfach hi sagen? Ihr seht jemanden, den ihr nicht ausstehen könnt. Wieder hektisches Schreiben im Kopf. Eine Entscheidung muß fallen. Wegschauen? Im Vorbeigehen anstarren? Nicken? Ein Hi hervorzischen? Ihr seht jemanden, den ihr mögt, und ihr sagt hi, in einem herzlichen, schmelzenden Ton, ein Hi, das plätschernde Ruder, singende Geigen, im Mondschein glänzende Augen heraufbeschwört. Es gibt so viele Arten, hi zu sagen. Man kann das Wort zischen, zwitschern, bellen, singen, blaffen, lachen, husten. Schon ein simpler Gang durch den Flur erfordert Absätze, Sätze im Kopf, Entscheidungen noch und noch.
    Ich mache das jetzt mal vom männlichen Standpunkt aus, weil für mich Frauen nach wie vor das eine große Geheimnis sind – ich könnte euch Geschichten erzählen. Hört ihr mir zu? Also, angenommen, ein Junge hier hat sich in ein Mädchen verliebt, das auch auf diese Schule geht. Zufällig weiß er, daß sie mit einem anderen Schluß gemacht hat, also hat er freie Bahn. Er würde
gern mit ihr ausgehen. Jetzt kommt der Schriftsteller in ihm ins Schwitzen. Vielleicht ist er ja so ein cooler Typ, daß er sogar die schöne Helena einfach ansprechen und sie fragen würde, ob sie nach der Belagerung schon was vorhat, er kenne da eine nette Taverne in den Ruinen von Ilion, in der es Lamm und Ouzo gibt. Der coole Typ, der Charmeur, braucht natürlich kein Skript. Wir übrigen müssen schreiben. Unser Mitschüler ruft also das Mädchen an und fragt, ob sie am Samstagabend mit ihm ausgehen möchte. Er ist nervös. Eine Zurückweisung würde ihn an den Rand des Suizids treiben, in die Überdosis. Er sagt ihr, am Telefon, daß er in ihrer Physikklasse ist. Sie erwidert zweifelnd,
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