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Survive

Survive

Titel: Survive
Autoren: Alex Morel
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langen Bogen sehen, über den ich gewandert bin.
    Bevor ich die dicke schwarze Linie am Horizont erreichen kann, komme ich an einen Stacheldrahtzaun. Ich breite den Schlafsack über den Draht und wälze mich einfach hinüber. Mir fehlt jegliche Kraft oder Beweglichkeit, um vorsichtig zu sein, und der scharfe Draht verhakt sich in meinem linken Unterarm und reißt eine lange Wunde von meinem Ellbogen bis zum Daumen. Die Füllung quillt aus meiner Jacke und wird dunkel, als sie sich mit meinem Blut vollsaugt. Ich versuche einen Moment, den Schlafsack aus dem Draht zu lösen, aber er ist vollkommen verheddert. Mit jedem Ziehen reißt er nur weiter auf.
    Das war’s, denke ich, kein Schlafsack heut Nacht. Ich muss den Wettlauf mit der Dunkelheit gewinnen. Ich trotte weiter. Der Schnee sammelt sich in tiefen Verwehungen, und der Boden ist uneben. Jeder Schritt ist unsicher, und in meinem Kopf wirbeln Erinnerungen und Fantasien wild durcheinander und werden schließlich eins. Unvermittelt taucht eine Zukunft vor mir auf, und Paul hält mich neben einem Weihnachtsbaum im Arm. Da hängen Strümpfe und Geschenke, und auf dem Tisch hinter uns stehen Fotos der Toten: mein Vater, Pauls Bruder Will und ein Foto von Old Doctor mit seinem Dad auf dem Fischerboot. Auch Old Doctor selbst ist da und redet mit meiner Mutter, und ich kann sehen, dass sie lächeln. Er nickt nur immer wieder und grinst, während meine Mutter ihm etwas erzählt, was ich nicht hören kann. Dann zwinkert er mir zu und formt mit den Lippen die Worte: »Alles im Lot, Jane.« Ich nicke ihm zu und lege die Hand auf Pauls Rücken.
    Ich blicke auf, und da leuchtet ein Licht in der Ferne. Es ist sehr weit entfernt, aber ich kann seine Wärme auf meinem Gesicht spüren, als sei es die Sonne selbst. Ich stolpere und falle und sehe einen Blutfleck auf dem Schnee. Steh auf, Jane.
    Ich erhebe mich, und ein gewaltiger Windstoß fährt mir in den Rücken, und der Schnee wirbelt vor meinen Augen. Ich konzentriere mich auf das Licht vor mir. Einen Schritt nach dem anderen, denke ich. Geh auf das Licht zu. Ich schaue auf, und es kann nicht allzu weit entfernt sein, nicht weiter als die Distanz von ein oder zwei Häuserblocks, doch ganz gleich, wie viele Schritte ich mache, es scheint immer noch weit weg.
    Ich stolpere wieder, und diesmal falle ich mit dem Gesicht nach unten in den Schnee, und mein Kopf schlägt auf Eis. Der Aufprall ist so hart, dass mir die Ohren klingeln, aber ich werde nicht ohnmächtig. Meine Brust hebt und senkt sich hektisch, im Bemühen, Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen. Doch so viel ich auch pumpe, ich komme nicht wieder zu Atem. Ich schaue in dieses Licht hinauf, das größer und wärmer ist denn je, und ich stehe auf, um ihm entgegenzugehen.
    Während ich gehe – das Licht leuchtet groß und hell vor der dunklen Linie, die jetzt noch dicker ist und sich deutlicher vom Hintergrund der Landschaft abhebt – , kommt es mir vor, als sei ich nun fast zu Hause. Ich kann nicht glauben, dass ich es wirklich geschafft habe. Mir ist schwindlig vor Erleichterung, und in meinem Körper herrscht ein aufgeregtes Durcheinander. Genau in dem Moment spüre ich, wie mich jemand hochhebt, und als ich den Kopf drehe, schmiege ich mich fest an Paul, der mich trägt. Er flüstert mir ins Ohr und sagt: »Nein.«
    Ich bin unfähig zu sprechen, ich bin so glücklich, ihn zu sehen und ihn zu spüren. Er sieht gut aus, wirklich umwerfend gut. Ich fühle, dass das eigentlich nicht sein kann, und doch ist es so wundervoll, und ich bin so dankbar, ihn zu sehen, dass es gar keine Rolle spielt, dass ich nicht verstehe, was geschieht. Ich schaue nur ihn an, statt nach vorn zu blicken – weshalb ich direkt in den Zaun laufe, der mich von dem dunklen Streifen Straße und dem hellen, warmen Licht auf der anderen Seite trennt. Ich falle auf die Knie, und für einen Moment denke ich, Paul sei fort, und habe Angst, nicht aufstehen zu können. Ich kann mich einfach nicht mehr bewegen. Ich liege im Schnee und horche auf meine flachen Atemzüge.
    Aber dann ist Paul wieder da. Er bückt sich und packt mich unter beiden Armen. Er flüstert:
    »Nicht für dich, Jane.«
    Er legt einen Arm um meine Schultern, und ich halte mich an seiner Hüfte fest, während wir zu der Straße hinüberstapfen. Ich höre Stimmen, sie sind sowohl nah als auch weit weg. Ich berühre seine Rippen unter seinem Hemd und spüre die Schwellung. Er bleibt stehen.
    »Danke«, sagt er. »Bleib für mich
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