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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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richtig«, sagte Yukiko mit ruhiger Stimme. Um ihre Mundwinkel spielte noch der Abglanz ihres Lächelns. »Du bist wirklich ein egoistischer, gemeiner Kerl, und ja, du hast mich sehr verletzt.«
    Ich sah Yukiko an. In ihren Worten schwang keine Anklage mit. Sie war weder zornig noch traurig. Sie stellte lediglich eine Tatsache fest.
    Ich nahm mir Zeit, die passenden Worte zu finden. »Mir kommt es vor, als hätte ich mein ganzes bisheriges Leben lang immer versucht, ein anderer Mensch zu werden. Ständig wollte ich einen neuen Ort finden, ein neues Leben führen, mir eine andere Persönlichkeit aneignen. Ich habe es mehrmals probiert. In gewissem Sinne stellt das eine Entwicklung dar, doch andererseits habe ich einfach nur meine Persönlichkeit gewechselt. Ich dachte, ich könnte mein Ich aus seiner Gefangenschaft befreien, indem ich ein anderes Ich wurde. Ich war ernsthaft davon überzeugt, mir entkommen zu können, wenn ich mir nur genug Mühe gab. Doch am Ende gelang es mir nie. Wohin ich auch gehe, ich bleibe derselbe. Meine Unzulänglichkeiten bleiben dieselben. Meine Umstände mögen sich verändern, doch ich bleibe stets derselbe unvollkommene Mensch. Der ewig gleiche fatale Mangel, den ich mit mir herumtrage, ruft einen unstillbaren Hunger in mir hervor. Dieser Hunger hat mich stets gequält und wird mich wahrscheinlich immer weiter quälen. Denn gewissermaßen ist es dieser Mangel, der meine Person ausmacht. Das weiß ich inzwischen. Für dich will ich ein neues Ich werden. Und vielleicht gelingt es mir. Es wird nicht einfach sein, aber ich werde mein Bestes geben, und vielleicht kann ich mich ändern. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich in der gleichen Situation vielleicht wieder das Gleiche tun würde. Vielleicht würde ich dir wieder wehtun. Ich kann dir nichts versprechen. Das habe ich gemeint, als ich sagte, ich hätte nicht das Recht. Ich traue mir nicht zu, diese Macht zu besiegen.«
    »Und bisher hast du immer versucht, ihr zu entkommen, ja?«
    »Ich glaube schon«, sagte ich.
    Yukikos Hand lag noch immer auf meiner Brust. »Du Armer«, sagte sie. Es klang, als würde sie etwas vorlesen, das in großen Lettern an einer Wand geschrieben stand. Vielleicht steht es tatsächlich an der Wand, dachte ich.
    »Ich weiß wirklich nicht«, sagte ich. »Von dir trennen will ich mich nicht. Das ist sicher. Aber ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt die Wahl habe. Yukiko, du bist hier. Und du leidest. Das kann ich sehen. Ich kann deine Hand spüren. Aber es gibt auch Dinge, die man nicht sehen oder spüren kann. So etwas wie Gedanken oder Möglichkeiten. Sie lauern in mir, dann sickern sie irgendwo hervor und verbinden sich. Dinge, die ich mir nicht ausgesucht habe, Dinge, auf die ich keine Antwort wüsste.«
    Yukiko schwieg lange. Gelegentlich fuhr ein Lastwagen unter dem Fenster vorbei. Ich warf einen Blick hinaus, aber es war nichts zu sehen. Dort breiteten sich nur namenlos die Zeit und der Raum aus, die Nacht und Morgengrauen verbanden.
    »In den letzten Wochen habe ich immer wieder ernsthaft daran gedacht zu sterben«, sagte sie. »Ich sage das nicht als Drohung. Ich habe wirklich oft an den Tod gedacht. So einsam und traurig war ich. Sterben ist gar nicht so schwer. Vielleicht kennst du das auch. Als würde die Luft in einem Zimmer allmählich dünner werden, ließ mein Lebenswille immer mehr nach. In solchen Momenten erscheint es nicht besonders schwer zu sterben. Ich dachte nicht einmal an die Kinder. So einsam und unglücklich war ich. Das hast du nicht gewusst, oder? Du hast nie wirklich ernsthaft darüber nachgedacht, was ich fühlte, dachte oder hätte tun können, nicht wahr?«
    Ich schwieg. Sie nahm ihre Hand von meiner Brust und legte sie in ihren Schoß.
    »Dass ich nicht gestorben bin und noch lebe, kommt daher, dass ich glaubte, es akzeptieren zu können, falls du irgendwann zu mir zurückkehren würdest. Deshalb bin ich noch am Leben. Das ist keine Frage des Rechts, keine Frage von richtig oder falsch. Vielleicht bist du ein egoistischer, gemeiner Mensch. Vielleicht wirst du mir wieder wehtun. Aber darum geht es nicht. Du begreifst nichts.«
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
    »Und du fragst mich nie etwas«, sagte sie.
    Ich suchte nach Worten, aber ich bekam den Mund nicht auf. Tatsächlich hatte ich Yukiko nicht eine einzige Frage gestellt. Warum eigentlich nicht? Warum fragte ich sie nie etwas?
    »Rechte musst du dir von nun an
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