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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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auch etwas Vernünftiges wollen.«
    »Mir fällt nichts Vernünftigeres ein. Mir fällt überhaupt nichts anderes ein.«
    »Leg deine Hände noch ein Stückchen höher, Erik. Mach die Haken auf.«
    »Dann lass uns reingehen.«
    »Niemand sieht uns.«
    »Lass uns trotzdem reingehen.«
    »Gut.«
    »Aber wir machen kein Licht. Ich muss mich noch daran gewöhnen.«
    »Wir brauchen kein Licht, Erik. Es ist hell.«
    »Ich glaube, man würde sowieso nichts sehen. Du hast recht. Man hat bisher auch nichts gesehen.«
    »Mal abgesehen von der Sonne auf deinen kräftigen Beinen sehe ich gar nichts.«
    »Meinst du, du kannst dich für mich auf den Bauch legen?«
    »Wenn du noch immer so schwer und behutsam bist.«
    »Ich bin immer noch der Gleiche.«
    »Dunkler als blond?«
    »Wenn du willst.«
    Die Frau streicht dem Jungen über den Kopf. Sie denkt an das Neue und das Alte, das noch zu Entstehende und das Entstandene, aber auch an das Eigene und das Eigene der anderen. Der Junge bemerkt, dass sie ihm nicht zugehört hat. Er sagt es noch einmal. Er sagt ihr, dass der Stein klappert. In der Hütte ist es warm von der Sonne, die durch die noch immer offene Tür fällt. Die Frau streichelt die Wangen des Jungen und versichert ihm, dass sie ihn verstanden hat. Sie sagt, wie schön es ist, dass er einen solchen Stein gefunden hat. Dass es seltene Steine sind. Dass man von den Versteinerungen im Inneren des Gehäuses normalerweise nichts ahnt. Dass man sie in diesem seltenen Fall aber hören kann. Der Junge nickt. Sie stehen in der sich erwärmenden Hütte. Die Hand der Frau liegt an der Wange des Jungen.
    »Inez, hörst du den Wind?«
    »Ja.«
    »Ich dachte, ich wäre eingeschlafen.«
    »Dein Haar ist verschwitzt.«
    »Es fühlt sich an wie Schlaf.«
    »Träum weiter, Erik.«
    »Grüne Shorts gefallen mir nicht.«
    »Du bist auch nicht dunkel.«
    »Wirst du noch da sein, wenn ich aufwache?«
    »Ich bin da, solange es dauert.«
    »Ich will trotzdem wachbleiben! Ich muss aufpassen, bis du einschläfst. Aber ich kenne mich; wenn ich gerade damit anfange aufzupassen, ist es Mittag, und du bist weg.«
    »Ich gehe nur weg, um uns einen Espresso zu machen.«
    »Du musst mir sagen, was du möchtest.«
    »Es ist alles da.«
    »Dann erzähl mir was, damit ich weiß, dass du nicht weg- gehst.«
    »Es ist alles da, Erik. Der Leuchtturm auf dem Plateau. Das türkisfarbene Wasser. Die Häuser in der Bucht. Die schwimmenden Pontons und sie, die winkt, bis ihre Hand von den Vögeln, die hinter ihr die Felsen ansteuern, für ihn zu unterscheiden ist. Die Fähre verliert an Fahrt. Leise und dunkel hängt das Summen des Motors über der Bucht. Was noch zu hören ist, sind die Vögel. Die Schreie, mit denen sich die Lummen in die Tiefe stürzen. So vertrauensvoll und ohne Ahnung. So beginnt es. Die Fähre legt an. Es ist Mittag. Über dem Wasser liegt gleißendes Licht. Der Junge verlässt das Boot. Die Frau hält den Arm des Jungen. Er ist dicht an den Rand des Stegs geraten. Sie hält seinen Arm nur kurz. Sie weiß nicht, dass er ausgerechnet heute kommt. Er ist schlank und hat einen wachen Blick. Er stellt seinen Rucksack ab am Strand und verschattet die Augen, um den Ort zu betrachten. Das Museum. Das Café. Die Kate am Strand. Es gefällt ihr, ihn hier auf der Insel zu haben.«

Die Flintkugel
    Die Fähre hat ihre Geschwindigkeit gedrosselt. Wir nähern uns dem Ufer von Gotland, auch wenn noch nichts davon zu sehen ist. Der Kapitän kam vor einer Weile in den Passagierraum und entschuldigte sich für die Verspätung. Der Nebel habe die Überfahrt verzögert. Er rechne noch mit einer Viertelstunde bis Klintehamn, eine Viertelstunde, die mir bleibt, um diese Geschichte bis zum Ende durchzugehen. Dann wird Klintehamns Betonmole auftauchen, ein paar Boller, Schmutz und verrottende Planken. Wenn ich Glück habe, wartet der Bus.
    In meinem Kopf steigen noch immer gellend die Vögel auf. Sie werden auch nach dem Anlegen der Fähre noch Wochen und Monate und Jahre meines Lebens aufsteigen. Vieles andere wird verblassen. Manches verschwimmt schon jetzt, wirkt in der Rückschau schon so, als wäre es einem anderen geschehen, nicht mir. Aber es gibt Augenblicke, die sich davon abheben, die herausstechen, die auf eine Weise zu mir gehören, in der die Geschichte meines Vaters beispielsweise nie meine werden kann; Erbe des Ostens hin oder her.
    Die Journalisten werden es anders sehen, und sie werden es in ihren reißerischen Beiträgen auch anders darstellen.
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