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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht
Autoren: Antje Rávic Strubel
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hättest dir einen ausdenken können.«
    »Erik«, sagte Inez langsam. »Würde dir das gefallen?«
    »Sehr.«
    »Weißt du, wie ich darauf gekommen bin?«
    »Sag’s mir.«
    »Er ist aus denselben Vokalen«, sagte Inez. »
I
und
e
. Man muss nur die Reihenfolge verändern.«
    »Das ist mir noch nie aufgefallen.«
    »Es ist ganz einfach.«
    Der Junge schaut an der Frau hoch, die neben ihm geht. Er hält ihre Hand fest in seiner. Den Stein hat er in die Tasche seiner grünen Shorts gesteckt. Er beult die Tasche aus. Der Junge hat Durst, aber er sagt nichts. Er geht neben ihr. Sie wissen beide nicht, was auf sie zukommt, welche der Geschichten ihre sein wird. Aber nur sie denkt darüber nach. Sie denkt, dass es egal ist, solange sie sie miteinander erleben.
    Als sie die Tür ihrer Hütte öffnet, fällt Sonne hinein bis zum Tresen. Sie hebt den Jungen hoch und setzt ihn auf einen der Hocker. Sie nimmt ein Glas aus dem Schrank. Sie füllt es mit Apfelsaft und Wasser aus dem Hahn. Sie stellt es dem Jungen hin, der gierig trinkt und sie auch beim Trinken nicht aus den Augen lässt.
    »Erik ist ein guter Name. Ich würde sofort stehenbleiben, wenn du mich rufst.«
    »Du würdest auf mich hören?«
    »Ich würde nicht allein zum Strand gehen.«
    »Da bin ich froh.«
    »Ich werde nicht ertrinken.«
    »Du würdest auf mich warten, und dann würden wir gemeinsam zum Ufer gehen.«
    »Ja.«
    »Ich würde dir vieles beibringen.«
    »Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel, dass man Vögeln nicht den Hals umdreht.«
    »Das war ich nicht.«
    »Ich weiß.«
    »Ich war es wirklich nicht! Das war ein anderer!«
    Der Junge hat das Glas ausgetrunken. Er stellt es zurück. Er sieht sich in der Hütte um. Er sieht sich an, was auf dem Tresen ist. Eine angebrochene Tafel Schokolade. Ein zweites Glas Apfelschorle, von dem die Frau noch nicht getrunken hat. Ein Messerblock. Ein Notizbuch. Er fasst nichts an.
    Auf dem Deckel des Notizbuches sind ein paar Buchstaben. Der Junge hat noch nicht lesen gelernt. Er nimmt Buchstaben wie Bilder wahr. Er sieht zwei Torbögen mit in der Mitte durchhängendem Dach, zwei spitze Hüte, einen grinsenden Mund mit zu weit hochgezogenen Mundwinkeln, und am Ende sieht er eine sich aufrichtende Schlange. Die Frau liest es ihm vor. Er wiederholt das Wort.
    MURAMARIS
.
    Sie erklärt ihm, dass es
Behausung am Meer
heißt. Dass manchmal die wörtliche Übersetzung nichts mehr mit der Bedeutung zu tun hat. Dass es falsch ist, sich immer auf den Ursprung zu verlassen, auf die Herkunft eines Wortes, auf seine Abstammung.
    Der Junge versteht nicht, was sie sagt. Für ihn zählt nur der Klang. Der Klang ihrer Stimme, ihres Lachens, als sie
Behausung
sagt. Sie lacht, weil das Wort so altmodisch ist. Und da muss auch er lachen. Er rutscht kichernd vom Hocker. Die Frau fängt ihn auf. Sie wirbelt ihn durch die Luft. Als der Lachanfall vorbei ist, nimmt er aus der Tasche seiner grünen Shorts den Stein. Er legt ihn neben das Wort. Er sagt der Frau, dass der Stein klappert.
    »Weißt du noch, als du zum ersten Mal mit mir an den See gefahren bist?«
    »Wovon redest du, Erik?«
    »Du hast mir gezeigt, wie man schwimmt. Erinnerst du dich nicht? Wie wir eine Stelle gesucht haben, wo keine Entengrütze war? Du hast mich mit beiden Händen im flachen Wasser gehalten und gesagt –«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Natürlich weißt du es!«
    »Immer schön den Kopf oben lassen?«
    »Genau: Kopf hoch. Und die Finger zusammen.«
    »Du wolltest keinen Schwimmring. Du hast dich gewehrt.«
    »Was noch?«
    »Als du das erste Mal Schnee gesehen hast, warst du noch sehr klein.«
    »Dann bin ich an einem kalten Tag geboren?«
    »An einem kalten Tag im Frühwinter.«
    »Hat mir der Schnee gefallen?«
    »Sehr.«
    »Wie sehr?«
    »So sehr, wie es dir gefallen hat, auf dem Karussell zu sitzen.«
    »Mehr als Zugfahren?«
    »Zugfahren wolltest du nie.«
    »Auch nicht zur Schule gehen.«
    »Meistens wolltest du nur bei mir am Bettrand sitzen und den Zigarrettenwolken zusehen, wie sie zur Zimmerdecke steigen. Aber als ich dich an der Eingangstür geküsst habe, das hat dir gefallen.«
    »Gefällt es dir?«
    »Sehr, Erik. – Mach es noch mal.«
    »Es ist schöner als Schnee. Und weißt du noch, wie ich meine Hände unter eines deiner weiten Hemden geschoben habe?«
    »Deine verwahrlosten Hände.«
    »Ich habe sie auf deine Brust gelegt. Ich habe sie so auf deine Brüste gelegt.«
    »Und das ist die Wahrheit?«
    »Das ist es, was ich will.«
    »Du könntest
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