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Sturmbote

Sturmbote

Titel: Sturmbote
Autoren: Tom Lloyd
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erschauderte und Mayel sprach hastig weiter. »Ich meine, die heiligen Schriften sind doch für die Gemeinde gedacht, die darin Weisung finden soll. Sollten sie dann nicht auf der Insel bleiben?«
    »Die augenblickliche Lage ist etwas verzwickter«, blaffte der alte Mann. »Du bist Novize. Glaube nicht, du seiest im Besitz allen nötigen Wissens. Genug geschwatzt! Führe mich zu der Schenke, in der dein Vetter auf uns wartet.«
    Mayel öffnete den Mund, um Widerworte zu geben, besann sich dann aber, mit wem er sprach und schloss ihn wieder. Er
wies die Straße entlang, und Abt Doren drückte sich an ihm vorbei und ging durch die Pfützen los, den Beutel mit seinen Besitztümern  – zwei weitere Bücher und ein seltsames, perlenverziertes Kästchen, das Mayel in der Nacht ihrer Flucht zum ersten Mal gesehen hatte – fest an die Brust gepresst. Der Abt beugte sich weit vor, die Augen auf den Boden gerichtet, um den Beutel vor dem Regen zu schützen.
    »Mich führst du nicht an der Nase herum, alter Mann«, murmelte Mayel. Das Lärmen des Wetters übertönte seine Worte, doch wenn der Abt sich umgedreht hätte, wäre ihm der kalte, berechnende Ausdruck aufgefallen, der in den Zügen eines Novizen nichts zu suchen hatte. »In dieser Kiste liegt etwas, das Dohle bekommen will. Er hat Bruder Edin nicht nur im Wahn getötet. Der Prior würde uns nicht wegen einiger dreckiger alter Bücher verfolgen, also warum sagst du mir nicht, was sich in diesem Kästchen befindet? Es muss wertvoll sein, wenn Dohle es so sehr begehrt – wertvoll genug, dass ich mich in die Bande meines Vetters einkaufen kann. Wenn wir überleben, wirst du diese verdammten Bücher selbst zur Insel zurücktragen, alter Mann.«
    Er schnitt hinter dem Rücken des Abts eine wütende Grimasse, dann schloss er eilig zu ihm auf, zog erst im letzten Augenblick seinen eigenen Beutel an die Brust, um ihn ein wenig zu schützen.
     
    Vom oberen Ende des Bauwerkes, unter dem der Abt Schutz gesucht hatte, erklang eine sanfte Stimme über das Geräusch des Regens hinweg: »Er hat den Schädel bei sich, ich kann ihn spüren.«
    »Das müssen wir dem höheren Ziel opfern. Der Alte ist nicht so zerbrechlich wie er aussieht, und auch nicht so schutzlos. Begnüge dich damit, dass er getan hat, was wir wollten. Jetzt kann der nächste Akt unseres Schauspiels beginnen.«

    »Aber ich könnte ihn hier und jetzt töten.« In den tiefliegenden Augen unter den buschigen Brauen blitzte Gier auf. Der Sprecher nahm den Regen, der sein dichtes schwarzes Haar durchnässt hatte und über die Hautbilder von Federn auf seiner Wange und auf seinem Hals lief, nicht wahr, während er finster die Straße entlangstarrte. Der Abt aber war bereits um eine Ecke gebogen.
    »Sein Gott würde es nicht zulassen«, sagte sein Begleiter. »Jedem Gott abzuschwören, wie du es tatest, ist nicht leicht, und Vellern würde dich daran hindern, einem seiner wichtigsten Gläubigen ein Leid anzutun. Vielleicht würde auch der Herr der Vögel die Gelegenheit nutzen, um ein wenig Rache zu nehmen.«
    Der zweite Mann trug den grünen Hut und die grüne Robe eines Spielmanns und hatte sich eine Flöte unter den linken Arm geklemmt. Er wirkte nur etwas feucht, als wollte ihn der Regen nicht berühren. Sein hellbraunes Haar war noch nicht nass genug, um sich dunkel zu färben. Und seine Wangen, die trotz der Aura des Alters, die ihn umgab, so glatt wie die eines Jungen waren, blieben trocken. Ein schmales Lächeln, wissend und verachtend zugleich, legte sich auf seine Lippen.
    »Andere könnten es vollbringen«, knurrte der Dunkelhaarige. Einst kannte man ihn als Prior Corci, heute war er Dohle, als Verräter und Mörder geschmäht. Sein neuer Herr hatte ihn so genannt, als sie sich zum ersten Mal trafen, vor nicht einmal sechs Monaten, in einem der feuchten, ungenutzten Keller des Klosters. Damals hatte er es für einen Scherz gehalten, aber dann hatte sich der Name langsam verbreitet, sogar unter Brüdern, die nichts von dem geplanten Verrat gewusst hatten. Prior Corci wurde stetig weiter aus der Geschichte getilgt. Mit jeder vergehenden Woche hatte ein weiterer Mann ihn vergessen. Dohle wusste genau, dass es kein Zurück gab, kein Entkommen vor den getroffenen Entscheidungen. Nur der Gedanke daran, was
Azaers Macht noch erreichen könnte, verhinderte, dass er in einer düsteren Verzweiflung über den Verlust seines früheren Lebens versank.
    Jetzt blinzelte Dohle den Regen weg und spähte auf die dunkle,
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