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Straße der Toten

Titel: Straße der Toten
Autoren: Joe R. Lansdale
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leuchteten so matt wie blinde Augen –, rollte die längst überfällige Postkutsche aus Silverton endlich in Mud Creek ein. Der Kutscher auf dem Bock trug einen dunklen Umhang und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.
    Niemand stieg aus. Keine Freunde oder Verwandte kamen herbei, um die Fahrgäste zu begrüßen. Die verspätete Ankunft wurde überhaupt nicht bemerkt, denn man hatte die Kutsche schon vor Stunden abgeschrieben.
    Die Pferde schnaubten und rollten verängstigt mit den Augen. Der Kutscher zog die rostige Bremse an und ließ die Zügel fallen. Lautlos und sanft wie eine Staubwolke stieg er ab.
    Der Mann ging nach hinten und warf die Gepäckdecke zurück. Eine lange Kiste ragte schief darunter hervor. Er riss sie an sich und hievte sie sich auf die Schulter. Und als wäre die Kiste nicht mehr als ein trockenes Holzscheit, rannte er damit mitten auf der Straße zur Pferdestation hinüber, wobei seine Stiefel kleine kurzlebige Staubteufelchen aufwirbelten.
    Eine Türangel quietschte, und dann war es, abgesehen vom Schnauben der Kutschpferde und einem fernen Donnergrollen über den schwarzgrauen Wäldern von Osttexas, wieder still.

1. Teil: Der Reverend
    Und er weiß nicht, dass Totengeister dort hausen ...
    – Sprichwörter 9, 18

(1)
    Eins
    Er kam aus dem weiten Hochland hergeritten: ein großgewachsener, hagerer Prediger, staubbedeckt, auf einer erdfarbenen Stute mit wundem Rücken, den ihr der lange harte Ritt und der Staub beschert hatten, der zwischen Sattelzeug und Fell scheuerte.
    Beide, Pferd und Reiter, waren zum Umfallen müde.
    Der Mann war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, nur ein staubiges weißes Hemd und ein silbern glänzender umgebauter 36er Navy-Colt steckten in einem breiten schwarzen Tuch über seinem Hosenbund. Wie bei vielen Männern, die das Wort Gottes verkünden, war sein Gesichtsausdruck ernst und streng. Aber er hatte auch etwas eindeutig Unpriesterliches an sich. Nämlich den stahlblauen Blick eines kaltblütigen Killers – den Blick eines Mannes, der dem Tod schon mehrmals in die Augen geschaut hatte.
    Auf seine Weise war er ein Killer. Sein donnernder 36er Navy hatte Männer niedergestreckt, die als Letztes auf Erden die dicken schwarzen Rauchschwaden aus der Mündung dieses glänzenden Revolvers erblickt hatten.
    Aber jeder von ihnen, so dachte der Reverend voller Überzeugung, hatte diesen Schwertstreich verdient. Jedes Mal war es Gottes Wille gewesen. Und er, Jebidiah Mercer, war der Vollstrecker des Herrn. Zumindest schien ihm das im Nachhinein so.
    Beim Zeltgottesdienst pflegte er zu predigen: »Meine Brüder, ich merze die Sünde aus. Ich bin der starke rechte Arm Gottes, und ich merze die Sünde aus.«
    Es gab auch Zeiten, in denen er sich seiner Rechtschaffenheit weniger gewiss war. Doch solche Gedanken verdrängte er lieber, fegte sie mit seiner ganz eigenen Auslegung von Gottes Wort hinweg.
    Bei Tagesanbruch ritt Jeb, langsam und müde, auf Mud Creek zu. Der neue Morgen brachte eine kühle Brise. Um ihn herum zwitscherten die ersten Vögel.
    Auf einem samtgrünen Grashügel hielt Jeb inne und schaute – wie ein Heiliger von ganz oben – auf die Siedlung hinab. Er sah schindelverkleidete Häuser inmitten eines dichten Waldes.
    Wieder einmal rollten ihm, wie ein Steppenläufer, diese Gedanken durch den Kopf: Osttexas, was für ein schöner Anblick, meine Heimat, wie habe ich dich vermisst ...
    Er zog sich den breitkrempigen Hut tiefer in die Stirn und führte sein hellbraunes Pferd weiter, hinunter nach Mud Creek, wo der umherreisende Gottesmann wieder einmal die Saat des Glaubens ausstreuen würde.
    Zwei
    Ganz gemächlich ritt er in Mud Creek ein, eher ein wachsamer Revolverheld als ein Verkünder von Gottes Wort.
    An der Pferdestation saß er ab und schaute zu dem Schild hoch: JOE BOB RHINE’S PFERDESTATION UND HUFSCHMIEDE.
    »Was wollnse?«
    Als er seinen Blick wieder senkte, sah er sich einem Jungen mit nacktem Oberkörper, einem Schlapphut und Wollhosen an ausgeleierten Hosenträgern gegenüber. Und mit mürrischem, gelangweilten Blick.
    »Wenn es dich nicht allzu sehr anstrengt, hätte ich gerne mein Pferd gestriegelt.«
    »Sechs Bits. Jetzt gleich.«
    »Nur Striegeln, kein Schaumbad, du kleiner Halsabschneider.«
    Der Junge hielt die Hand auf. »Sechs.«
    Der Reverend griff in die Tasche und klatschte ihm das Geld in die Handfläche. »Wie heißt du, mein Junge? Ich wüsste gern, um wen ich in Zukunft einen Bogen machen
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