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Sträflingskarneval

Sträflingskarneval

Titel: Sträflingskarneval
Autoren: Annette Eickert
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Ryan im ersten Moment nicht für real halten. Aidan trug graue Einheitskleidung und Kettenfesseln, aber dies alleine raubte Ryan nicht die Fassung, sondern es war der Blick tiefsten Elends in Aidans Gesicht.
    Der dünne Körper seines Mitschülers wirkte krank und ausgezehrt. Ryan glaubte, unter der fleckigen zerschlissenen Kleidung jeden Knochen erkennen zu können. Vielleicht fand er es auch nur so erschreckend, weil Aidan schon immer schlank gewesen war, doch nun stach diese Tatsache ihm sehr deutlich ins Auge. Er sah einfach grauenhaft aus. Seine stets gepflegten, schulterlangen blonden Haare, die er oft im Nacken zusammenband, waren offen, struppig und verfilzt und besaßen einen aschfahlen Stich, vom Schmutz einmal abgesehen. Einige Strähnen fielen ihm ins ungewaschene und abgemagerte Gesicht und verdeckten dadurch seine Augen, die vermutlich ebenso verlorenen Lebensmut widerspiegelten wie die gesamte Gestalt seine Mutter.
    Aidans Hände und Füße waren mit starken Eisenketten gefesselt, die viel zu schwer für den schwachen Körper waren. Dennoch versuchte er irgendwie gerade zu stehen. Aidan trug keine Schuhe und seine nackten Füße waren von Blut verkrustet.
    Neben Ryan keuchte Kimberly erschrocken auf und griff mit leicht bebender Hand nach seiner. Er drückte ihre Hand, versuchte sie so etwas zu beruhigen und schaute sie an. Sie war blass und die Furcht stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, deshalb wagte er einen kurzen Blick zu Rossalyn und Kendra.
    Kendra sah Kimberly nicht unähnlich, der Schock beim Anblick ihres Neffen saß tief. Stattdessen wirkte ihre jüngere Schwester umso gefasster, was ihn überraschte. Doch allmählich verstand er Rossalyn McGraths Verhalten und schämte sich insgeheim für sich selbst. Selbstverständlich wollte Rossalyn für ihren einzigen Sohn unerschütterlich erscheinen und ihm Stärke vermitteln, um die nervenaufreibende Verhandlung mit dem letzten Funken Ehre zu überstehen, die nur noch wie ein hauchfeiner Schatten über Aidans Kopf in der Luft schwebte.
    Lautes Stöhnen und Kettenrasseln drang an Ryans Ohr und neugierig schenkte er wieder dem Angeklagten sein ausnahmsloses Interesse. Bei dem, was er wahrnahm, verschmolz sein bisheriger, brodelnder Hass auf Aidan McGrath mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend. Es war eine Mischung aus Genugtuung und einer unerklärlichen Angst. Aidan war gestolpert und auf den harten Steinboden gefallen, wo er mit zusammengepressten Lippen auf allen Vieren kniete. Zwei stämmige Ordensmitglieder beugten sich mit den Schlagstöcken in den Händen über ihn und zwangen ihn lautstark zum Aufstehen. Im ersten Augenblick bewegte sich Aidan nicht und Ryan befürchtete schon, sie würden ihn brutal schlagen. Aber zum Glück rappelte er sich gerade rechtzeitig auf, japste und erhob sich umständlich mit den schweren Eisenketten vom Boden. Kurz schwankte er, fand aber sein Gleichgewicht wieder. Dann lief er flankiert von den Wächtern den kurzen Weg zum Anklagestuhl entlang. Kaum saß er, wurden seine Fesseln an den Stuhl gekettet, sodass er nicht fliehen konnte, falls seine körperliche Verfassung dies überhaupt zugelassen hätte.
    Ringsherum begann die Menge zu tuscheln und in Ryans Magen breitete sich das komische Angstgefühl weiter aus. Er wusste nicht, woher es kam und warum es ausgerechnet von ihm Besitz ergriff. Noch merkwürdiger fand er die Tatsache, dass er ausgerechnet bei Aidan, und nicht bei den anderen Gefangenen, Furcht verspürte, die er nicht einmal einzuordnen vermochte. Und noch etwas wirkte hier falsch, es passte einfach nicht zu dem, was Ryan vom friedliebenden Druidenorden kannte. Schlagartig fühlte er sich ins frühe Mittelalter versetzt und dies behagte ihm keinesfalls. Um das Bild abzurunden, hätte nur noch gefehlt, dass die Zuschauer Aidan mit faulen Eiern und verdorbenem Gemüse bewarfen und für seinen Verrat den Tod am Galgen forderten. Ein schrecklicher Gedanke, der ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
    „Ryan“, flüsterte Kimberly und drückte seine Hand. Sofort löste er den Blick von Aidan und sah sie an. „Verstehst du jetzt, was ich die ganze Zeit meine?“ Gespannt wartete sie auf seine Antwort.
    Aber er war zu keiner fähig. Seine Gedanken schweiften zu ihren zahllosen Diskussionen zurück. Am deutlichsten erinnerte sich Ryan an ihr Gespräch vor knapp einer Stunde und er musste einen wachsenden Kloß im Hals herunterschlucken. Er
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