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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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weiß, wie lange ein Hund ohne Wasser überleben kann,
will er dieses Risiko nicht eingehen, aber seine Abneigung gegen das
entsetzliche Szenario kann man nicht gerade "Gewissen" nennen. Es
ist eher so etwas wie Ekel oder Furcht.
    Oder
vielleicht wird Joe motiviert von der Vorstellung, was seine Nachbarn denken
könnten, wenn sie Reebok vor Hunger heulen hören, oder, schlimmer noch, wenn
sie erfahren, dass Reebok gestorben ist, allein und eingesperrt, während Joe
auf einer Geschäftsreise war. Wie kann er das jemals seinen Freunden und
Bekannten erklären? Diese Sorge ist auch nicht wirklich Joes Gewissen, sondern
eher die Erwartung großer Peinlichkeit und gesellschaftlicher Ächtung. Falls
Joe aus diesem Grunde zurückkehrt, um seinen Hund zu füttern, wäre er wohl
kaum der Erste, der eine Entscheidung aus Gründen seines gesellschaftlichen
Ansehens trifft; vielleicht würde er ganz anders handeln, wenn er sicher sein
könnte, dass niemand von seinem Verhalten erfahren würde. Die Meinung unserer
Mitmenschen hält uns alle in Schach, wohl besser als jeder andere Faktor.
    Oder
vielleicht ist das alles ein Teil von Joes Selbstverständnis. Vielleicht will
Joe sich nicht vor seinem geistigen Auge als ein Lump sehen müssen, der Tiere
quält. Und vielleicht ist ihm sein Selbstbild als anständiger Mensch wichtig
genug, dass er, wenn er keine Alternative hat, lieber eine wichtige Besprechung
versäumt, als dieses Selbstbild zu beschädigen. Dies ist eine besonders plausible
Erklärung für Joes Verhalten. Die Bewahrung des Selbstbildes ist ein sattsam bekanntes
Motiv. In der Literatur und in vielen historischen Darstellungen menschlichen
Verhaltens wird die Sorge um das Selbstbild als "Ehre" bezeichnet.
Für die "Ehre" sind Leben hingegeben und Kriege geführt worden. Sie
ist eine uralte Triebfeder. Und in der modernen Psychologie wird unsere Sicht
von uns selbst zur "Selbstachtung" - ein Sujet, über das vielleicht
mehr psychologische Fachbücher geschrieben worden sind als über jedes andere
einzelne Thema.
    Vielleicht
ist Joe willens, heute ein paar "Karrierepunkte" preiszugeben, um
morgen mit einem guten Gefühl in den Spiegel sehen zu können und so in seinen
Augen "ehrenhaft" zu bleiben. Das wäre löblich und sehr menschlich -
aber es ist nicht das Gewissen.
    Der
faszinierende Kern des Themas ist, dass ein großer Teil unseres Verhaltens, der
vermeintlich dem Gewissen entspringt, durch ganz andere Faktoren motiviert ist:
Furcht, gesellschaftliche Zwänge, Stolz oder einfach nur Gewohnheit. Und wenn
es um Joe geht, werden einige Leser vehement eine Erklärung seiner Motive
befürworten, die ohne Gewissen auskommt, da sein Verhalten zum Teil ohnehin
fragwürdig ist. Routinemäßig lässt er seinen jungen Hund für viele Stunden
allein, manchmal für fast zwei Tage. An diesem Morgen, auch wenn er das Meeting
versäumt und heimfährt, um den Hund zu füttern, will er doch den Flug um 10:15
Uhr nehmen und bis zum nächsten Abend abwesend sein. Reebok wird allein und
eingesperrt sein, abgesehen von dem kleinen, eingezäunten Areal hinter dem
Haus. Einen Hund einer solchen Lage auszusetzen, ist nicht sehr nett - von
Seiten Joes spricht daraus bestenfalls ein gewisser Mangel an Mitgefühl für die
sozialen Bedürfnisse des Tieres.
    Allerdings,
um der Wahrheit die Ehre zu geben: "Nett" zu sein allein reicht nicht
aus, um ein Gewissen zu haben. Für kurze Zeit kann jeder einigermaßen
intelligente Soziopath eine engelsgleiche Nettigkeit an den Tag legen, um seine
eigenen manipulativen Ziele zu erreichen. Und Menschen, die tatsächlich ein
Gewissen haben, sind häufig trotz ihres angenehmen Wesens achtlos, aus Ignoranz
oder, wie vielleicht in Joes Fall, aus mangelndem Mitgefühl oder allgemeiner
psychischer Verdrängung.
    Angenehme
Umgangsformen, kluges Verhalten, Rücksicht auf die Reaktionen anderer Menschen,
ehrenhaftes Verhalten im Interesse unserer Selbstachtung - wie das Gewissen
haben alle diese Faktoren in der Regel positive Auswirkungen auf den Lauf der
Welt. Und einige von ihnen - oder alle zusammen - mögen wohl manchmal dem Hund
zu seinem Futter verhelfen, aber keiner von ihnen macht das Gewissen eines
Menschen aus - da das Gewissen überhaupt kein Verhalten ist - nichts, was wir
tun und auch nichts, worüber wir nachdenken oder grübeln würden. Das Gewissen
ist etwas, das wir fühlen. Mit
anderen Worten: Das Gewissen manifestiert sich weder durch Verhalten noch durch
Erkenntnis. Das Gewissen existiert
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