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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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Minuten zu spät dran für ein
äußerst wichtiges Meeting, das - mit ihm oder ohne ihn - pünktlich um acht Uhr
beginnen wird. Er muss einen guten Eindruck auf seine Vorgesetzten machen, also
praktisch alle Teilnehmer, und er würde gern als erster mit den betuchten neuen
Mandanten sprechen, deren Anliegen im Bereich seines sich neu entwickelnden
Fachgebietes Immobilienverwaltung liegen. Seit Tagen schon hat er sich auf die
Besprechung vorbereitet, da viel für ihn auf dem Spiel steht, und unbedingt
will er zum Beginn des Meetings im Konferenzraum sein.
    Leider
hatte der Heizofen in Joes Stadthaus mitten in der Nacht den Dienst
eingestellt. Fröstelnd lief er auf und ab und sorgte sich, dass die
Wasserleitungen einfrieren könnten, während er auf den Notdienst der Heizwerke
warten musste, bevor er zur Arbeit fahren konnte. Als der Handwerker eintraf,
bat Joe ihn herein und ließ ihn in seiner Eile, das Meeting zu erreichen, in
seinem Haus allein, um den Ofen zu reparieren, in der Hoffnung, dass der Mann
sich als halbwegs vertrauenswürdig erweisen würde. Endlich konnte Joe zu
seinem Audi rennen und sich auf den Weg ins Büro machen, wenn er auch nur noch
25 Minuten für eine halbstündige Fahrt zur Verfügung hatte. Er beschloss, die
Verkehrsregeln nicht so genau zu nehmen und die Verspätung aufzuholen.
    Und nun
rast Joe auf der vertrauten Strecke zur Arbeit, mit zusammengebissenen Zähnen
und einem gelegentlichen Fluch in Richtung langsamerer Autofahrer - oder
eigentlich aller anderen Fahrer. Er legt die Bedeutung einiger roter Ampeln neu
aus, fährt auf der Standspur an einem Stau vorbei und klammert sich verzweifelt
an die Hoffnung, dass er irgendwie um acht Uhr im Büro sein könnte. Nachdem er
drei grüne Ampeln in Folge passiert hat, steigt seine Zuversicht, dass er es
schaffen könnte. Mit seiner rechten Hand tastet er nach seiner Reisetasche auf
dem Beifahrersitz, um sich zu vergewissern, dass er sie mitgenommen hat. Denn
er muss - als hätte er nicht schon genug Probleme - um 10:15 Uhr einen Flug
nach New York erreichen, für eine Geschäftsreise, und er wird keinesfalls genug
Zeit haben, um nach dem Meeting nach Hause zu fahren und seine Reisesachen zu
holen. Seine Hand berührt das weiche Leder der Tasche - sie ist da.
    Und genau
in diesem Moment fällt es ihm ein: Er hat vergessen, Reebok zu füttern. Reebok
ist Joes dreijähriger, hellbrauner Labrador. Er hat ihn so genannt, weil er
seinen enthusiastischen neuen Kameraden frühmorgens zum Joggen mitzunehmen
pflegte, als er beruflich noch nicht so eingespannt war. Als die berufliche
Belastung wuchs und der morgendliche Ablauf sich änderte, hatte Joe den kleinen
Garten hinter dem Haus eingezäunt und eine Hundeklappe im Keller installiert,
sodass der Hund selbständig nach draußen konnte. Inzwischen laufen sie nur
noch am Wochenende zusammen im Park. Aber mit oder ohne Joggen - Reebok
verschlingt jede Woche mehrere Pfund Hundefutter nebst einem umfangreichen
Sortiment an Essensresten und mindestens einem ganzen Karton Hundeknochen. Der
Appetit des jungen Hundes ist gewaltig, und fröhlich und zufrieden scheint er
ausschließlich für zwei Freuden zu leben - die gemeinsame Zeit mit Joe und
sein Fressen.
    Joe hatte
sich Reebok angeschafft, als er noch ein Welpe war. Als Kind hatte Joes Vater
ihm verboten, ein Haustier zu halten, und er hatte sich geschworen, einen Hund
zu haben, wenn er erwachsen und erfolgreich sein würde - einen großen Hund.
Zunächst bedeutete Reebok für Joe nicht viel mehr als sein Audi - eine weitere
Anschaffung, ein Symbol für seine Unabhängigkeit und seinen materiellen
Wohlstand. Aber bald verliebte sich Joe in den Hund - wie hätte er ihm
widerstehen können? Reebok vergötterte Joe bedingungslos - schon als Welpe war
er ihm im ganzen Haus hinterhergetapst, als wäre Joe die Inkarnation alles
Guten im Universum. Als sein Hündchen zu einem Hund heranwuchs, wurde Joe klar,
dass diese Kreatur eine ebenso ausgeprägte und individuelle Persönlichkeit
besaß wie ein Mensch, und dass seine feuchten, braunen Augen mindestens
ebensoviel Seele hatten. Und nun legt Reebok, wann immer Joe in diese Augen
schaut, seine weiche, hellbraune Stirnhaut in Falten und erwidert seinen Blick.
Und so wirkt dieser süße, unbeholfene Hund seltsam nachdenklich, als könnte er
Joes Gedanken lesen und an ihnen teilhaben.
    Manchmal,
wenn er - so wie heute - eine Geschäftsreise machen muss, ist Joe für
anderthalb Tage oder sogar etwas länger nicht
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