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Stirb, mein Prinz

Stirb, mein Prinz

Titel: Stirb, mein Prinz
Autoren: Tania Carver
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konnte – nicht glauben, dass es vorbei war. War es auch nicht.
    130 Mickey blieb wie angewurzelt stehen.
    Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu.
    Im Innern des Containers sah es aus wie in einem Slum. Auf dem feuchten, rostigen Metallboden waren stockfleckige und verdreckte Matratzen verteilt, auf denen zwischen alten, modrigen Decken Menschen lagen.
    Aber was für Menschen. Schmutzig. Ausgemergelt. Barfuß. Die Kleider, die sie am Leib trugen, waren nur noch Lumpen. Von der Decke hingen Niedrigwattbirnen. Einige waren defekt, die brennenden sorgten mit ihrem fahlen Schein für ein trübes, bedrückendes Zwielicht.
    Vorsichtig wagte Mickey sich weiter vor. Die wenigen Menschen, die er sah, starrten ihn an und wichen vor ihm zurück. Sie sprachen kein Wort. Er ging bis zur Mitte und spähte nach vorn. Es war nicht nur ein einziger Container. Er konnte sehen, dass die Rückwand fehlte und die scharfen, rostigen Kanten mit denen des nächsten Containers verschweißt waren. Auch dort hingen Glühbirnen von der Decke. Noch mehr Matratzen. Noch mehr Menschen, die aussahen wie lebende Tote.
    So mussten sich die alliierten Soldaten am Ende des Zweiten Weltkriegs gefühlt haben, als sie nach Bergen-Belsen kamen.
    Voller Entsetzen wurde ihm bewusst, wo er war.
    Im Garten.
    Er ging langsam weiter und ließ dabei den Blick unablässig umherschweifen. Er hielt Ausschau nach Fenton, doch zugleich waren seine Sinne wie gelähmt durch das, was er vor sich hatte.
    Der Gestank war unvorstellbar. Verwesung, menschliche Exkremente. Und die Geräusche. Ein leises Stöhnen und Wimmern. Todkranke, so entkräftet, dass sie nicht einmal mehr um Hilfe rufen konnten. Erwachsene stellten sich schützend vor ihre Kinder, als er an ihnen vorbeiging. Seine bloße Anwesenheit verbreitete Schrecken. Schließlich nahm er noch einen anderen Geruch wahr: Essen. Wie schlecht gewordene Gemüsesuppe. Aufgewärmte, drei Tage alte Küchenabfälle.
    Er ging weiter, und allmählich gewöhnten sich seine ­Augen an das dämmrige Licht. Er wusste, dass es zwecklos war, einen der Menschen zu fragen, ob sie Fenton gesehen hätten. Er wusste nicht einmal, ob sie des Englischen mächtig waren.
    Von diesem Ort kam Finn. Der Arme , dachte Mickey. Der arme, arme Junge.
    Er betrat den nächsten Container, in dessen Decke sich ein quadratisches Loch befand. Eine eiserne Leiter führte nach oben. Mickey sah sich um, und da er Fenton nirgendwo entdecken konnte, begann er die Leiter hinaufzuklettern.
    Er gelangte auf die nächsthöhere Ebene, die im Wesentlichen genauso aussah wie die untere, nur dass die Zustände hier ein klein wenig besser waren. Wäsche hing auf Leinen – alt und abgetragen, aber wenigstens ansatzweise sauber. Auch die Matratzen schienen nicht ganz so faulig wie unten, da sich das Regenwasser nicht am Boden sammeln und sie durchtränken konnte. Stattdessen lief es an den Wänden ­herunter. Mickey spürte die feuchte Kälte sofort in seiner Brust.
    Er sah sich um. Der Grundriss war derselbe wie unten. Von Fenton weiterhin keine Spur. Er wollte sich gerade daran­machen, auch diese zweite Ebene abzusuchen, als er spürte, wie jemand an seinem Hosenbein zog.
    Er blieb stehen und blickte nach unten. Eine Frau, die zusammengekauert und voller Angst am Boden saß, schaute zu ihm hoch. Sie zuckte zurück, wagte nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen. Sein erster Impuls war, sein Bein wegzuziehen, doch er gab ihm nicht nach. Stattdessen blieb er ganz ruhig stehen. Die Frau wollte ihm nichts zuleide tun. Sie wollte ihm etwas mitteilen.
    Sie deutete auf eine Leiter im nächsten Container und ahmte mit zwei Fingern nach, wie jemand eine Treppe hochstieg. Mickey wiederholte die Geste, woraufhin die Frau nickte.
    Jetzt wusste er, wohin Fenton geflohen war.
    Er zwang sich zu einem Lächeln und nickte ihr zu. Formte mit den Lippen ein stummes »Danke«.
    Die Frau zog den Kopf ein, als erwarte sie, von ihm geschlagen zu werden.
    Mickey eilte zur Leiter und begann zu klettern.
    Jetzt würde er ihn sich schnappen.
    Er hatte die obere Ebene erreicht. Hier brannte kein Licht, und er musste einige Sekunden warten, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Er kniff die Augen zusammen. Diese Ebene war unbewohnt. Als besäßen die Menschen ­unten gar nicht mehr die Kraft, bis hierherauf zu klettern. Er sah, dass auch hier Glühbirnen von der Decke hingen, allerdings hatte das eintretende Wasser sie zerstört. Trotzdem war es gut möglich, dass noch Strom durch die
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