Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel
Autoren: Leonie Ossowski
Vom Netzwerk:
nicht glaubte, zu wem sollte er dann noch gehen? War es von ihm zu verlangen, dass er ein zweites Mal die Geschichte von dem Juden ohne Beweise erzählen sollte? Wenn man ihm als Hitlerjungen kein echtes Vertrauen schenken wollte, würde er schweigen. Ohne Vertrauen keine Pflichterfüllung.
    Jähde sah an Willis Gesicht, dass nur etwas zu erreichen war, wenn er den Jungen tatsächlich für eine Stunde laufen ließ.
    »Also«, Jähde stand unter dem Führerbild und sah Willi fest in die Augen, »dann lauf jetzt. Aber vergiss nie, was du damit für eine Verantwortung auf dich lädst. Ein anderer an meiner Stelle würde dir gegenüber wohl kaum so großzügig sein.« Er reichte Willi die Hand. »Ich baue auf dich!«
    »Ich werde Sie nicht enttäuschen, Herr Rektor.« Willi schlug die Hacken zusammen. Mit einer zackigen Kehrtwendung verließ er das Zimmer.
    Jähde lächelte ihm halb amüsiert, halb befriedigt nach.
    Auf dem Flur traf Jähde Frau Nagold. »Packen Sie eigentlich immer noch?«, fragte er leichthin.
    »Ich – nein, natürlich nicht. Mein Mann wollte es nicht, und«, sie wies auf die Flüchtlinge, die noch in den Gängen herumlungerten, »ich hab ja hier meine Pflichten!«
    »So«, nickte Jähde. »Ihr Mann wollte es nicht. Na, vielleicht hat er seine Gründe, warum er plötzlich die Nähe der Russen so liebt!«
    »Wie meinen Sie das?«, stotterte Frau Nagold verwirrt.
    Jähde ließ sie ohne ein Wort der Erklärung stehen. Sie rannte ihm nach, hielt ihn am Arm fest.
    »Was haben Sie gegen meinen Mann?« Rote Flecken der Angst begannen sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen.
    »Er hat eine bemerkenswerte Art, wichtige Dinge zu bagatellisieren. Das passt mir nicht!«
    Frau Nagold nickte beflissen, aber Jähde beachtete es nicht mehr. Sie stand genau an der Stelle, wo die junge Wahrsagerin ihr die Karten gelegt hatte. Wie war es gewesen? Ein kleiner schwarzer Herr brächte große Gefahr für ihren Mann. Und man solle sich an einen Herrn wenden, der beruflich mit ihrem Mann zu tun hätte. Der würde helfen.
    Es war Nacht geworden. Ein leichter Nebel lag über den Dächern der Stadt. Die Stille der nahen Front war bedrückend. Nur das Rollen der Panzerketten brummte in der Ferne. Willi stand am Brunnen. Die neue Verantwortung, wie Jähde sich ausgedrückt hatte, trieb ihn planlos durch die Stadt. Er hatte nur noch den Wunsch, den Juden zu finden und so sein Pflicht- und Treuegefühl unter Beweis zu stellen.
    Während sich Kimmich am Nachmittag aufgemacht hatte, um Abiram aus dem Stadttor zu holen und in Sicherheit zu bringen, hatte Ruth Abirams Ankunft liebevoll vorbereitet. Seit dem Tod der Mutter hatte sie zum ersten Mal für drei Personen gedeckt. Hinter dem Kornhaus, wo die Mittagssonne warm schien, pflückte sie die ersten Veilchen, die sie in einem Glas auf den Tisch stellte. Plötzlich stand der Großvater in der Stube, allein. Wortlos nahm er den dritten Teller vom Tisch.
    »Wo ist er?«
    »Fortgelaufen.«
    Sie aßen schweigend zu Abend und warteten die Dunkelheit ab.
    »Wir müssen noch einmal gehen«, sagte Kimmich. »Wenn er in der Stadt ist, müssen wir ihn finden. Vielleicht ist er zum Stadttor zurück.«
    Nachdenklich schob er die Teller zusammen. »Wenn er Hunger bekommt, könnte es sein, dass er sich nachts Essen holt.«
    »Darf ich mitkommen?«, fragte Ruth. Sie hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesprochen.
    »Du musst sogar mitkommen, denn dir wird er vertraun!«
    Als Kimmich mit Ruth das Haus verließ, bemerkten weder er noch sie, wie sich eine Gestalt aus dem Schatten des Kornhauses löste und ihnen folgte.
    Ruth hatte ihre Hand zwischen die Finger des Großvaters geschoben. Seit Jahren waren sie nicht mehr so nebeneinander gegangen. Ruth hatte unter dem Schutz des Großvaters das Gefühl, dass doch noch alles gut werden würde.
    »Wie still es heute ist«, sagte sie leise, als sie den Marktplatz überquerten, »beinah wie früher -«
    »Ja«, sagte Kimmich, »aber es ist keine gute Stille!«
    Nach einer Weile fuhr er noch leiser fort: »Wenn wir Glück haben, sind morgen die Russen da. Wenn aber neue Volkssturmtruppen eingesetzt werden, dann sieht es schlimm aus!«
    »Weißt du, ob man das tun wird?«
    »Nein, Ruth. Woher soll ich das wissen? Unsere Stadt ist bis auf einen kleinen Streifen nach Westen eingeschlossen.«
    Kimmich kämpfte gegen eine tiefe Müdigkeit, die ihn seit dem Augenblick befallen hatte, da sein Versuch, das jüdische Kind zu retten, missglückt war. Es bedrückte ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher