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Sterbelaeuten

Sterbelaeuten

Titel: Sterbelaeuten
Autoren: Endemann
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schwierig war, den Gesichtsausdruck eines fast auf dem Kopf stehenden Gräfinnen-Gesichts zu deuten, las sie dort keinen Zorn.
    „Hat sich die Platte gelöst?“ Die Gräfin war nun zu Katharina auf den Boden gekrochen. Sie hob das Stück Holz auf. Auf der Platte lag ein Pergament, das Katharina beim Herunterfallen der Platte nicht bemerkt hatte. Sie sah sich den Korpus an. Er hatte sonst keine Platten. Zwischen den Rippen war der Fichtenholzboden zu sehen. Nur am linken Bein waren vier kleine Löcher, an denen die Platte mit Holzstiften befestigt gewesen war.
    „Psst!“ Die Gräfin legte den Zeigefinger vor den Mund. „Nichts passiert. Wir legen das hier“ – sie wedelte mit dem Papier, auf dem Katharina jetzt Noten und Schreibschrift erkannte – „schön ordentlich wieder an seinen Platz.“ Sie legte das Papier auf die Platte und steckte diese mit den Holzstiften fest.
    „Was ist das für ein Papier?“
    „Ein Geheimpapier.“ Die Gräfin lächelte vergnügt. „Ich erzähle es dir, aber du musst es für dich behalten …“
    –
    Elisabeths Wecker klingelte um 6.30 Uhr. Sie stand auf und weckte drei Schulkinder, die sich in unterschiedlich schweren Stadien der Unwilligkeit befanden. Dann ging sie nach unten und machte sich eine große Tasse Kaffee, an der sie sich festhielt, während die Cornflakes- und Kakao-Schlacht, die obligatorischen Geschwisterstreitigkeiten und die letztminütige Suche nach Turnbeuteln, Brotdosen und Matheheften ihren Lauf nahmen.
    Als sie die Haustür hinter dem letzten großen Schulranzen mit Kind vorne dran geschlossen hatte, sank sie erschöpft auf ihren Küchenstuhl zurück und trank die zweite Tasse Kaffee. Danach würde sie duschen, sich anziehen und an den Schreibtisch setzen.
    Elisabeth war freiberufliche Kommunikations-Beraterin. Sie verfasste Geschäftsberichte, Umweltberichte, Equal-Equality-Berichte und Unternehmensbroschüren für kleinere und mittelgroße Unternehmen.
    Zu Beginn ihrer freiberuflichen Karriere hatte Henry sie gefragt, ob sie kein schlechtes Gewissen habe, die Unternehmen „schönzuschreiben“, wie er es nannte.
    „Nein“, lautete kurz und knapp ihre Antwort.
    „Nein?“, hatte er mit amüsiert erhobener Augenbraue zurückgefragt.
    „Was schwingst du überhaupt für linkslastige Gutmensch-Reden?“, sagte Elisabeth. „Du hältst auch jedem noch so unbeliebten Zeitgenossen eine schöne Beerdigungsansprache, so dass man denkt, er wäre Mutter Theresa gewesen.“
    „Das ist doch was anderes!“, hatte Henry gesagt. „Ich höre doch meistens nur das, was die Angehörigen mir erzählen. Dein sogenannter „unbeliebter Zeitgenosse“ hat zu diesem Zeitpunkt das Zeitliche schon gesegnet und kann sich nicht verteidigen.“
    „Eben“, hatte Elisabeth zufrieden geantwortet. „Und ich bekomme meine Informationen von den Unternehmen, die gesetzlich verpflichtet sind, die Wahrheit zu sagen. Wer bin ich zu behaupten, dass die Informationen nicht richtig sind? Und wenn ich dann aus dem Bullshit-Bingo der sinnentleerten Worthülsen, zynischen Euphemismen und blödsinnigen Anglizismen einen schönen, lesbaren Text dichten kann, wieso sollte ich das nicht mit gutem Gewissen tun?“
    Henry gab sich geschlagen.
    Elisabeth klagte zwar manchmal, wie sehr sie ein ordentliches Büro, nette Kollegen, ja sogar die Kantine vermisste. Wie das allviertelstündliche Klingeln von Gemeindegliedern, des Postboten, Anrufe des Schulsekretariats (Lukas hat eine Platzwunde, Marlene hat Läuse, Markus sitzt auf dem Dach fest, bitte holen Sie ihn/sie/alle ab) jeden vernünftigen Gedanken unmöglich machte. Tatsächlich hatte Elisabeth schnell Gefallen daran gefunden, zuhause zu arbeiten.
    Sie dachte an Frau Heinemann. Da drehte sich ein Schlüssel in der Haustür und sie hörte, wie Henry in den Flur trat. Elisabeth setzte eine neue Kanne Kaffee auf. Henry betrat die Küche. Er war ein bisschen grau im Gesicht und sah durchgefroren aus.
    „Und?“, fragte Elisabeth.
    „Sie ist tot. Um zwanzig vor sieben ist sie gestorben.“
    „War es schlimm?“
    „Ja. Nein. Ich meine, vergleichsweise. Frau Herold war auch da.“
    Elisabeth ließ das auf sich wirken. Dann fragte sie: „War sie noch bei Bewusstsein, als du kamst?“
    „Ja, am Anfang. Sie wollte mir etwas sagen. Es ging um die Töchter. Sie hatte Zweifel, ob sie das Richtige getan habe. Sie wünschte sich, dass Sibylle zu Mirko zurückginge. Ich hab nicht alles verstanden.“ Es nagte an ihm, dass er die letzten Worte von
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