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Stephane Hessel - ein Jahrhundertleben

Stephane Hessel - ein Jahrhundertleben

Titel: Stephane Hessel - ein Jahrhundertleben
Autoren: Hermann Vinke
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deutsche Sprache hat mir geholfen. Das war von Vorteil. Französische Mithäftlinge, die kein Wort Deutsch verstanden, hatten es schwerer. Sie fühlten sich minderwertig und gedemütigt. Ich verstand den deutschen Funkverkehr und übersetzte, wenn ich etwas hörte, meinen Kameraden den Inhalt.
    Ihr Überleben hängt auch damit zusammen, dass Sie mehrfach versucht haben zu fliehen.
    S H – Gegen den Verlust der Freiheit habe ich mich immer aufgelehnt. Ich dachte: »Wenn man fliehen kann, muss man fliehen.« Die Chance zur Flucht darf man nie verstreichen lassen. Meine Freunde sagten mir, wenn ich wieder einmal nach einem Fluchtversuch festgenommen worden war: »Das macht doch überhaupt keinen Sinn! Der Krieg ist bald vorbei! Die Russen stehen schon in Warschau.«
    Soweit ich weiß, sind Sie nicht religiös. Aber es muss eine Legion von Schutzengeln gegeben haben, die dafür sorgten, dass Stéphane Hessel durchkommt.
    S H – Durchkommt, richtig. Das hängt auch mit meiner Mutter zusammen. Sie war meine Beschützerin. In den Gesprächen mit ihr gab es schon die poetische Idee des Schutzengels und des besonderen Glücks, das einem Kind und dann einem jungen Menschen zuteilwerden sollte.
    Wenn Sie zurückblicken, welche Bedeutung hatte Ihre Kindheit für Ihr späteres Leben? Ihre große Zuversicht und Ihr Lebensmut haben vielleicht in der Kindheit ihre Wurzeln.
    S H – Bestimmt. Zum Beispiel war mein älterer Bruder in diesem Zusammenhang wichtig. Ulrich war gelähmt und bekam epileptische Anfälle. Trotz seiner Gebrechen kümmerte er sich um mich. Dabei meinte es das Leben doch besser mit mir als mit ihm. Im Vergleich zu Ulrich hatte ich das bessere Los gezogen. Und ich war der Liebling meiner Mutter.
    Herr Hessel, nach dem Krieg wurden Sie Diplomat und haben in dieser Funktion an zahlreichen Missionen und Aktionen mitgewirkt. Sie beschreiben sich selbst als einen Mittler. Bis ins hohe Alter nehmen Sie diese Rolle wahr. Woher kommt diese Energie?
    S H – Das hängt wiederum mit dem Gelingen zusammen. Wenn ich zur Lösung eines Problems beitragen kann und es nützt, dann bin ich froh. Und mache weiter.
    Einige Ihrer Einsätze sind gescheitert. Manchmal gibt es ja auch so etwas wie eine Dialektik des Scheiterns, das heißt, es misslingt etwas und beim nächsten Versuch klappt es dann doch.
    S H – Ganz recht. Im Scheitern liegt oft eine neue Chance. In Afrika ist es mir oft so ergangen. Auch wenn es nur ganz geringe Fortschritte bei der Lösung eines Problems gab, habe ich mir gesagt: »Na ja, es ist wenig, aber ein Anfang ist gemacht. Und beim nächsten Anlauf komme ich vielleicht weiter.«
    Es gibt nicht viele Menschen, die ein ähnlich intensives Leben geführt haben und weiterhin führen wie Sie. Manche davon werden im Laufe der Zeit zu Egomanen, die stets um die eigene Person kreisen. Sie, Herr Hessel, sind das Gegenteil eines Egozentrikers.
    S H – (lacht) … es klingt unbescheiden, wenn ich sage: Ich habe mich nicht viel um mich selbst gekümmert. Zum Beispiel habe ich große Lieben gehabt. Ich habe Frauen geliebt, meine erste Frau, meine jetzige und noch andere, nicht zu vergessen: meine Mutter. Das Gegenüber ist mir wichtig, die anderen (…) Mich selbst halte ich nicht für so wichtig.
    In Ihrer 1998 erschienenen Biografie Tanz mit dem Jahrhundert ist an einer Stelle vom »Triumph des Geldes« und einem »brutalen Liberalismus« die Rede. Haben Sie die globale Finanzkrise vorausgeahnt?
    S H – Nach dem Krieg war klar: Wir brauchen den Liberalismus. Wir brauchen die Markwirtschaft. Denn das sowjetische System funktioniert nicht. In der Sowjetunion verarmt das Volk. 2007 stehe ich mit einem Freund vor dem Rockefeller-Center in New York. Wir sprechen über die freie Wirtschaft und über den Reichtum. Im Westen werden einige sehr reich und viele bleiben ganz arm. Wenn man sich nicht dafür interessiert, wie der Reichtum zustande kommt und was er mit den Völkern macht, dann geht es immer mehr Menschen schlecht. So sprachen wir 2007 in New York, also noch vor dem Finanzchaos, das wir jetzt erleben. Ich fordere nach wie vor: Wir müssen eine neue Marktwirtschaft entwickeln. Es muss eine neue Balance zwischen Kapital und Arbeit geben, damit die Menschen vom Lohn ihrer Arbeit leben können. Wenn man wie ich lange in Afrika gelebt hat, weiß man, wie schwierig es ist, das Geld aus den Taschen der Reichen in die Taschen der Armen zu bringen. Dafür muss es bestimmte Regeln geben.
    Was schwebt Ihnen da vor? Ein
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