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Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Titel: Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Autoren: Manfred Fluegge
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aus hat er viele Netze betreut, er kennt zu viele Namen. Jeden Morgen gab es in der Wohnung von Jean-Pierre Couture in der Rue Delambre ein Frühstück mit Lagebesprechung und Verteilung der Aufgaben: Treffen mit Kontaktpersonen, Botschaften deponieren, »Briefkästen« leeren. Grecos Kontakt in Paris ist das Netz, das sich Phratrie nennt. Treffen fanden in verschiedenen Wohnungen statt, aber man gab sich auch reichlich nonchalant, speiste abends in Schwarzmarkt-Restaurants. In manchen Wohnungen standen Funkgeräte, Greco selber schickte manche Nachricht nach London. Die Basis aller Codes ist ein sehr langes, aber auch sehr bekanntes Gedicht von Lamartine:
Le Lac
. Lyrik dient auch als Basis für Geheimbotschaften. Da ist es hilfreich, viele Verse im Kopf zu behalten.
    Später kommt es Greco so vor, als hätten die Bäume besonders schön geblüht im Pariser Frühling 1944. Man sei reichlich ausgelassen gewesen, trotz aller Geheimaktivität. Die deutschen Uniformen in den Straßen hätte man kaum noch wahrgenommen. Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni löste große Euphorie aus. Jetzt schien der Sieg zum Greifen nah. Aber Anfang Juli wollte London, dass Greco nach England zurückkehre, im Schatten einer Luftlandeoperation. Er aber wollte nicht. Hatte er keine Sehnsucht, seine Frau wiederzusehen? Hatte ihn die Pariser Luft leichtsinnig gemacht?
     
    Greco wird in Handschellen in einer Dienstmädchenkammer unter dem Dach der Nummer 84 eingesperrt. Dass erbei der Vernehmung Deutsch spricht, verschafft ihm einen Vorteil. Er sei offiziell in Lyon gemeldet, sagt er, zeigt seine (falschen) Papiere. So gewinnt er eine Nacht. Seine Taktik ist: reden, verhandeln, schrittweise nachgeben. Aber wie viel hat er dabei preisgegeben? In seiner Erinnerung hat er lange mit den Vernehmern gespielt und taktiert, hat sie hingehalten.
    Er behauptet zunächst, dass er Greco nicht kenne. Man droht ihm mit der Folter in der Badewanne. Er will es darauf ankommen lassen, nimmt es als sportliche Herausforderung. Er muss sich ausziehen, bekommt Handschellen angelegt, wird mit dem Kopf minutenlang unter Wasser gedrückt. Erst nach dem vierten Mal gibt er etwas zu, schließlich auch, dass er Greco ist. Was ändert das jetzt noch? Mündlich und auch schriftlich macht er Angaben über seine geheimen Aktivitäten, das meiste davon erfindet er oder verdreht es. Er nennt seinen wahren Namen: Stéphane Hessel. (Das stimmt.) Geboren 1917 in Paris. (Nur das Jahr stimmt, geboren wurde er in Berlin, aber das könnte ihm gefährlich werden, wenn man es wüsste.) Der Vater heißt François Hessel, verstorben in Sanary im Jahr 1941. (Er heißt Franz, Todesort und -datum stimmen.) Die Mutter Helen Hessel sei 1939 in Paris verstorben. (Sie ist quicklebendig, aber er muss sie schützen.) Alles hundertprozentige Franzosen also. (Dass es sich um deutsche Emigranten handelt, darf der SD nicht wissen, noch weniger, dass der Vater Jude war.)
    Viele Verhöre folgen für Greco-Hessel, auch durch andere Dienste. Antoine Masurel, Leiter der Phratrie, war 14 Tage vorher verhaftet worden. Stéphane sieht ihn, wie er den Flur entlanggezerrt wird, aber sie tun so, als ob sie sich nicht kennen. Wenn die Deutschen seinen Lügen auf die Spur kommen, werden sie wütend, fesseln ihn an einen Stuhl, und ein junger Kerl versetzt ihm serienweise heftige Ohrfeigen. Die demütigende Position, die ihn seine ganzeWehrlosigkeit spüren lässt, macht ihn wütend. Doch Wut stärkt den Willen zum Durchhalten.
    Am 20. Juli ändert sich das Verhalten der Vernehmer. Man berichtet ihm sogar vom Attentat gegen Hitler, lässt ihn eine Weile glauben, Hitler sei tot. Das dient nur dazu, ihn gesprächiger zu machen. In dieser Zeit fängt er an, sein Überleben wieder für möglich zu halten. Und doch geht ihm der Vers nicht aus dem Kopf:
No longer mourn for me when I am dead
.
    Nach den Misshandlungen sperrt man den Mann, der eben noch Greco war, allein in der Mädchenkammer ein. Die Zeit wird ihm quälend lang. Zerfledderte Bücher liegen dort herum, Flauberts
Salammbô
, Dumas’
Der Graf von Monte Christo
, ein deutscher Roman von 1939 (
Der Opiumkrieg
), ein neuer französischer Roman ohne Titelblatt. Der Mann, der nicht mehr Greco ist, sagt sich Gedichte auf, schaut dabei auf die Armbanduhr, um ihre Dauer zu messen, spielt in seinem Kopf Fluchtpläne durch, phantasiert die Rettung durch die Alliierten.
     
    Vom 10. Juli bis zum 8. August 1944 befindet sich Stéphane Hessel in
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