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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte
Autoren: Hans Bemmann
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aus, und Gisa holte Brot, Fleisch und Wein aus ihrer Packtasche. Während sie aßen, begann hoch oben im Baum eine Amsel zu flöten. Lauscher hörte ihr zu und meinte, seit langem kein so süßes Lied gehört zu haben. Die Melodie erinnerte ihn an irgend etwas, aber er konnte nicht herausfinden, woran. Neugierig spähte er hinauf in den Wipfel, um den Vogel zu entdecken.
    »Dort oben sitzt er«, sagte Gisa und zeigte ihm die Stelle. »Du bist zwar mittlerweile ein recht guter Schütze geworden, aber ich wette, daß du ihn nicht mit einem Pfeil herunterholst.«
    »Warum sollte ich ihn totschießen?« fragte Lauscher. »Er singt so schön.«
    »Eine Amsel wie tausend andere«, sagte Gisa. »Hast du Angst, danebenzuschießen und die Wette zu verlieren?«
    »Laß sie doch weiterflöten«, sagte Lauscher.
    »Ich werde dir zeigen, wie man Amseln schießt«, sagte Gisa, stand auf und griff zu ihrem Bogen.
    Da nahm Lauscher den Saphir aus der Tasche, den er seither immer bei sich getragen hatte, hielt ihn Gisa hin und sagte: »Um des Steines willen, den du mir geschenkt hast, bitte ich dich: Laß die Amsel leben.«
    Gisa lachte. »Was soll ich mit dem Stein? Ich besitze Tausende davon. Bist du zu schwach, eine Amsel sterben zu sehen?« Sie nahm einen Pfeil und legte ihn auf die Sehne. Da sprang Lauscher auf und schlug ihr den Bogen aus der Hand. Blaß vor Zorn drehte sich Gisa zu ihm um. »Du Narr!« schrie sie. »Ist dir ein Vogel mehr wert als mein Vergnügen? Ist dir vielleicht dein schäbiger Augenstein mehr wert als mein Saphir? Du Träumer, aus dir wird nie ein Mann!«
    Sie sprang auf ihr Pferd, hetzte es quer über die Lichtung und setzte mit einem Sprung ins Gebüsch, das rauschend hinter ihr zusammenschlug. Lauscher blickte noch einmal auf den Saphir, der eisig blau in seiner Hand schimmerte. Dann warf er ihn ins Dickicht, wo Gisa verschwunden war. »Da hast du deinen Stein, du Hexe!« rief er ihr nach.
    Der Stein flog in weitem Bogen über die Lichtung wie eine bläulich blitzende Sternschnuppe und tauchte im Schatten der Bäume unter. Lauscher glaubte einen erstickten Aufschrei zu vernehmen, dann hörte er nur noch das Krachen brechender Zweige und das dumpfe Gepolter von Hufen auf dem Waldboden, das sich rasch entfernte. Lauscher machte die Hunde los und jagte sie Gisa nach. Dann setzte er sich wieder unter die Eiche und lehnte sich an den Stamm. Auf einmal fühlte er sich wie von einer Last befreit, wußte aber nicht zu sagen, von welcher. Über ihm fing wieder die Amsel an zu flöten. Diesmal klang ihr Gesang viel näher. Lauscher blickte nach oben und sah sie dicht über sich in den untersten Zweigen der Eichen sitzen. Dieses Bild erschien ihm vertraut. Wo hatte er das schon einmal gesehen? Es wollte ihm nicht einfallen.
    Jetzt verstummte die Amsel und äugte zu ihm herunter. Dann flatterte sie zu einer Höhlung im Stamm, klammerte sich mit ihren Krallen in der rissigen Rinde fest und pickte eifrig in das modrige Astloch. Rindenstücke und Holzsplitter rieselten auf Lauschers Haar herab.
    »Hast du Hunger?« fragte er, und dabei fiel ihm ein, wo er die Amsel schon einmal gesehen hatte. »Meine Freundin vom ersten Tag«, sagte er und hielt ihr ein paar Brotkrümel auf der flachen Hand hin. Im gleichen Augenblick rollte etwas Schimmerndes aus der Höhlung und fiel ihm in den Schoß. Er griff danach und hielt seinen Augenstein in der Hand.
    »Hast du ihn für mich aufgehoben?« sagte er zu der Amsel. »Du bist wahrhaftig eine Freundin, auf die man sich verlassen kann.«
    Er hielt den Stein in die Sonne. Das Licht fing sich in dem Strahlenring und ließ ihn in allen Farben schimmern, schöner als er ihn je im Gedächtnis gehabt hatte, tausendmal schöner als alle Rubine, Saphire und Topase von Barleboog.
    Die Amsel war inzwischen auf den Boden gehüpft und pickte die Krumen auf, die Lauscher aus der Hand gefallen waren, als er nach dem Stein gegriffen hatte. Und während er den Stein betrachtete, erinnerte sich Lauscher wieder, warum er überhaupt in den Wald geritten war. Wie hatte er den Sanften Flöter vergessen können, zu dem er unterwegs war? Er hatte nicht mehr an ihn gedacht, seit er den Augenstein verloren hatte. Oder seit er den Saphir in der Tasche getragen hatte. Laß dich nicht aufhalten, hatte seine Mutter zum Abschied gesagt. Aber er hatte sich aufhalten lassen, hatte den großen Herren auf Barleboog gespielt und sich auf den Richterstuhl setzen lassen. Über alles andere hätte man lachen können,
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