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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Autoren: Thomas Karlauf
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wird.
    Schiller, Don Carlos, IV.21

1
    Der Sternegucker
    Am 9. Februar 1801 verkündete der Friede von Luneville öffentlich und unzweideutig, was der Vertrag von Campo Formio nur insgeheim und unklar bestimmt hatte: daß der Rhein fortan Deutschlands Grenze sei. Ein Gebiet von elfhundertfünfzig Geviertmeilen und fast vier Millionen Einwohnern war für Deutschland verloren, beinahe ein Siebentel von der Bevölkerung des alten Reichs, das ohne Schlesien auf achtundzwanzig Millionen Köpfe geschätzt wurde. Mit unheimlichem Kaltsinn liess die deutsche Nation den furchtbaren Schlag über sich ergehen. Kaum ein Laut vaterländischen Zornes ward vernommen, als Mainz und Köln, Aachen und Trier, die weiten schönen Heimatlande unserer ältesten Geschichte, an den Fremden kamen; und wie viele bittere Tränen hatte einst das verkümmerte Geschlecht des Dreißigjährigen Kriegs um das eine Straßburg vergossen! 1
    Als Heinrich von Treitschke bald nach der Reichsgründung von 1871 seine Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert zu schreiben begann, schickte sich Deutschland eben an, als jüngste unter den europäischen Nationen in den Kreis der Großmächte aufzurücken. Mit Bismarcks Einigungswerk war ein Schlussstrich gezogen, das Blatt hatte sich gewendet. Die preußischen Historiker, allen voran Sybel und Treitschke, betrachteten es als ihre Pflicht, die Ansprüche des Parvenüs geschichtlich zu untermauern, und gingen insbesondere mit der französischen Expansionspolitik hart ins Gericht. In Treitschkes Darstellung der bösen Konsequenzen des Friedens von Lunéville spiegelt sich das Selbstverständnis der Sieger von Sedan, die in der Annexion von Elsass und Lothringen nichts anderes sahen als den gerechten Ausgleich für die seit den Tagen Ludwigs XIV. immer wieder erlittene Schmach. Die Annexion war in ihren Augen die Antwort der Geschichte auf jahrhundertelange französische Rempeleien am Rhein; Deutschlands Strom war eben doch nicht Deutschlands Grenze.

    Dabei räumte sogar Treitschke ein, dass die Franzosen viel frischen Wind an den Rhein gebracht hatten. Aus 97 durcheinandergewürfelten Herrschaften und Besitzungen bildeten sie vier wohlgeordnete Departements und setzten mit einer kleinen, tüchtigen Beamtenschaft die Segnungen des Code civil in die Praxis um. Mit diesem 1804 in allen Teilen Frankreichs in Kraft getretenen Gesetzeswerk hatte Napoleon die Errungenschaften der Revolution gültig festschreiben lassen. Zu den elementaren Grundwerten, in deren Bann bald ganz Europa geriet, zählten die persönliche Freiheit des Einzelnen, der Gleichheitsgrundsatz in der Rechtsprechung und die Möglichkeit zum Erwerb von Grund und Boden durch jedermann. Als außerordentlich verlockend wurden diese Neuerungen gerade von der linksrheinischen deutschen Bevölkerung empfunden, die der strengen Vormundschaft der »Krummstabregierungen« (Treitschke) ausgesetzt gewesen war. Hier, im Bereich der Kurien von Mainz, Köln und Trier, »hatte ein besonders altmodisches, vorabsolutistisches, feudal-ständisches System bestanden, hier war der Modernitätsumbruch am schärfsten, die Reform am radikalsten«. 2
    Einer der vielen, die im Tross Napoleons ihr Glück zu machen hofften, war Johann Baptist George, der Urgroßonkel. Geboren 1772 in Rupeldingen, einem Flecken im nördlichen Lothringen, knapp zwanzig Kilometer nordöstlich von Metz, ziemlich genau auf der deutsch-französischen Sprachgrenze zwischen Mosel und Saar. Am Neujahrstag des Jahres XIII – nach dem Gregorianischen Kalender, den die Franzosen in revolutionärem Eifer abgeschafft hatten, war es der September 1804 – machte er sich auf den Weg, nicht mehr ganz jung, aber noch unverheiratet. Die Lebensbedingungen für Deutschstämmige in Lothringen waren seit der Revolution schwieriger geworden, und er wollte auf deutschem Boden einen Neuanfang wagen. Vor allem wollte er Land erwerben. Johann Baptist George blieb in Büdesheim hängen, einem kleinen Dorf südlich von Bingen, nicht viel größer als der Weiler an der Nied, aus dem er stammte. In dieser Gegend, die seit dem 15. Jahrhundert im Besitz des Mainzer Domkapitels
gewesen war, stand viel Grund und Boden zum Verkauf, hier wollte er sich niederlassen.
    Lothringen war wie das Elsass immer Grenzland gewesen. Zweisprachigkeit gehörte hier zu den Selbstverständlichkeiten, und zweisprachige Leute waren bei der französischen Verwaltung jetzt besonders begehrt. Johann Baptist George avancierte zum Fiskalbeamten der
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