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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE
Autoren: Jana Döhring
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Vergangenheit hineinzusehen. Ich soll daran erinnert werden, dass ich etwas getan habe, wofür ich mich damals wie heute schämen muss. Ich soll wenigstens einmal im Monat darüber nachdenken. Tatsächlich denke ich viel öfter darüber nach. Insofern hat Gerry übererfüllt.
    Ich weiß, warum ich mich damals so entschieden habe, kenne die Gründe. Doch nach so langer Zeit liegen sie wie unbehauene Felsbrocken in meiner Erinnerung. Wie war es noch mal genau? Ich suche in meinem Kopf nach Einzelheiten. Mir fallen Fragmente von Situationen ein, unangenehme, schmerzhafte, lächerliche. Alles ist noch sehr grobmaschig. Doch hier liegen die Antworten. Ich muss sie sorgfältig bergen und mich mit ihnen auseinandersetzen. Ich will das jetzt tun, ich muss das jetzt tun.
    Mit der Karte zusammen trage ich die Bruchstücke der Erinnerung in das Schubfach meines Nachttisches, der nun der Aufbewahrungsort ist für viele von Gerrys farbenfrohen Denkzetteln.
    Käme eine Fee zu mir und hätte ich einen Wunsch frei, dann wäre dieser wohl, damals weniger leichtfertig mit dem Stasigespenst umgegangen zu sein. Wie sehr wünsche ich mir, damals alles viel gründlicher überlegt, anderen Werten mehr Gehör gegeben zu haben. Aber es war eine Zeit der Lebenslust und des Abenteuers, nichts sollte mir in die Quere kommen. Es war eine Zeit, in der ich nach allem griff, was neu und spannend war. Aber auch mit dreiundzwanzig ist man wohl kein Kind mehr und schon lange für sein Tun verantwortlich.
    Ich denke zurück an meine ersten Arbeitstage im Spreehotel.
    * * *
    Neben all dem Aufregenden eines Anfangs, dem spannenden Kennenlernen der vielen jungen Leute, die kreuz und quer aus der Republik auch hier in die Hauptstadt gekommen waren, neben der gründlichen Einarbeitung in den Service stellte ich bald fest, dass es sich um einen körperlich sehr anstrengenden Arbeitsplatz handelte.
    Gleich in meiner ersten Woche feierte eine LPG, eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, ihr Betriebsfest. Gerry hatte scheinbar eine Art Patenschaft für mich übernommen, die von den anderen witzelnd genehmigt wurde. So arbeiteten wir gemeinsam in einem „Revier“, wie unser Zuständigkeitsbereich in der Kellnersprache hieß.
    Der Dienst begann um sechzehn Uhr. Um diese Zeit waren die Haustechniker als Erste im Saal beschäftigt. Sie stellten die runden Tische auf und karrten meterhohe Stapel von Polsterstühlen an ihre Plätze. Buffets wurden gezimmert, die Tanzfläche vor der Bühne ausgelegt. Während die Tontechniker mitder Band die Raumakustik abstimmten und erste Künstler, die am Abend auftreten sollten, exotisch durch das Office rauschten, deckten wir das Meer der Tische ein.
    Im Hinterland wurde ebenfalls geschäftig gewerkelt. Die Köche trafen unter grellem Neonlicht auf chromblitzenden, meterlangen Wärmebrücken ihre Vorbereitungen. Später wurden hier die fertigen Speisen angerichtet, die zuvor in der Zentralküche im Keller des Hauses zubereitet worden waren.
    Das Buffet für die Ausgabe der Getränke war ein abgeschlossener Raum innerhalb des Office mit einer großen Theke. Hier wurden die Getränke gelagert, gekühlt und ausgegeben. Es gab eine Zapfanlage mit mehreren Sorten Bier. In den großen Kühlschränken standen schon „bunte Tabletts“ mit verschiedenen alkoholischen Getränken bereit, mit denen die Gäste empfangen wurden. Gerry nahm mir die Furcht vor dem kommenden Stress des Abends, indem wir uns mit den Resten meines ersten bunten Tabletts in eine Nische des Hinterlandes zurückzogen.
    Der offizielle Rückzugsort stand am Ende des schlauchartigen Office. Auf diesem „Kellnertisch“ befanden sich immer: mehrere gut gefüllte Aschenbecher, leere Tassen und halb volle Tassen mit lauwarmem und kaltem Kaffee, Wasserkaraffen und Gläser mit Cola, Wein oder was auch immer gerade den Durst stillen sollte, ein Brotkorb mit aufgeschnittenem Baguette, dessen Bröckchen schnell den größten Hunger stillten. Dieser Tisch war die Seele des Hinterlandes. Hier traf man sich kurz zur Entspannung. An diesem Tisch war man nie allein, immer fand sich jemand, der sich kurz auf einen Stuhl warf, um sich auszuruhen oder mal meckern oder quatschen, essen, trinken oder rauchen wollte.
    Für die Betriebe und ihre Brigaden, die in diesem Haus gern ihr „Betriebsvergnügen“ feierten, war dies ein großer Tag. Man kam vom Lande in die Hauptstadt und dann noch in einfeines Hotel. Wochen vorher gab es bei den Frauen aus den sozialistischen
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