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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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Surin sich an die andere Seite des Pfeilers schlich.
    »Nennen Sie mich Wlad, bitte.« Als sei das eine Gunst. Selenski stand auf der Schattenseite des Ruhms. Zehn Jahre zuvor war er ein junger Regisseur von schludrigen Kriminalfilmen gewesen, bis er selbst angefangen hatte, vom Kokain zu kosten, und schließlich den Zaubertrick vollbracht hatte, in seinen eigenen Nasenlöchern zu verschwinden. Sein Lächeln verriet, dass der Junge wieder da war, und sein krauses Haar ließ ahnen, dass darunter Ideen köchelten.
    »Und, Wlad, was haben Sie gesagt, als Sie ihn sahen?« Selenski lachte. »So was wie: >Fick deine Mutter!< Das, was jeder sagen würde.«
    Soweit sich Arkadi erinnerte, schlug Selenski sich mit Pornos durch und produzierte wie am Fließband Filme, die nichts weiter erforderten als zwei willige Körper und ein Bett. Filme, bei denen jeder, auch der Regisseur, unter einem Pseudonym arbeitete.
    »Hat Stalin etwas gesagt?«
    »Nein.«
    »Wie lange war er zu sehen?«
    »Zwei Sekunden, vielleicht drei.«
    »Könnte es jemand mit einer Maske gewesen sein?«
    »Nein.«
    »Sie sind Filmemacher?«
    »Unabhängiger Filmemacher.«
    »Könnte da jemand einen Film oder ein Video abgespielt haben?«
    »Das alles aufgebaut und wieder abmontiert haben? Geht nicht schnell genug.« Selenski zwinkerte dem Mädchen zu. »Er hat wo gestanden?«
    Auf der Skizze machte Selenski ein Zeichen auf dem Bahnsteig, dem letzten Wagen unmittelbar gegenüber. »Und dann?«
    »Ist er weggegangen. Verschwunden.«
    »Weggegangen oder verschwunden?«
    »Verschwunden. »
    »Was hat er mit der Flagge gemacht?«
    »Welcher Flagge?«
    »Sie haben den Kriminalpolizisten gesagt, Stalin hatte eine Flagge.«
    »Ich nehme an, die ist auch verschwunden.« Selenski hob den Kopf. »Aber ich habe Stalin gesehen.«
     »Und Sie haben gesagt: >Fick deine Mutter.< Warum in der Metrostation Tschistyje Prudi? Von allen Bahnhöfen, in denen Stalin auftauchen könnte - warum ausgerechnet hier?«
    »Liegt doch auf der Hand. Haben Sie studiert?«
    »Ja.«
    »So sehen Sie auch aus. Na, ich sage Ihnen was, das Sie noch nicht wissen - darauf wette ich. Als die Deutschen Moskau bombardierten, hieß diese Station Kirow, und Stalin kam hierher, tief unter die Erde. Er schlief auf einer Pritsche auf dem Bahnsteig, und der Generalstab schlief in den U-Bahnwagen. Sie hatten keine schicke Kommandozentrale wie Churchill oder Roosevelt. Sie stellten Wände aus Sperrholz auf, und immer wenn ein Zug durchkam, flogen Karten und Papiere durch die Gegend, aber sie entwickelten eine Strategie, mit der Moskau gerettet wurde. Dieser Bahnhof könnte so was wie Lourdes sein, wo die Leute auf den Knien beten, wo man Stalin-Figuren aus Gips kaufen kann und wo Krücken an den Wänden hängen. Sehen Sie das nicht vor sich?«
    »Ich bin kein Künstler wie Sie. Ich erinnere mich an Eins plus eins. Das war ein interessanter Film.«
    »Der Serienmörder. Das ist schon lange her.«
    »Was für Filme habe ich inzwischen versäumt?«
    »Ratgeberfilme.«
    »In denen man lernt, wie man schreinert? Oder klempnert?«
    »Wie man fickt.«
    Arkadi hörte, wie Surin aufstöhnte. Die Schülerin Marfa Burdenowa wurde rot, blieb aber sitzen.
    »Haben Sie eine Visitenkarte?«
    Selenski gab ihm eine. »Cine Selenski« stand auf dem neuen, sauber geschnittenen Karton, gut geeignet für ein Comeback. Die Adresse lag in der modischen Twerskaja, auch wenn die Telefonvorwahl auf den weniger eleganten Südrand von Moskau hindeutete.
    Die Uhr über der Tunneleinfahrt zeigte 04: 50. Arkadi stand auf, dankte allen Zeugen und warnte sie, dass es draußen schneie. »Sie können jetzt alle gehen oder auf die erste U-Bahn warten.«
    Selenski wartete nicht. Er sprang auf, breitete die Arme aus wie der Sieger in einem Boxkampf und schrie den ganzen Weg bis zum Aufzug: »Er ist wieder da! Er ist wieder da!« Er klatschte in die Hände, als er hinauffuhr, gefolgt von der kleinen Burdenowa, die schon ihr Handy aus der Tasche wühlte.
    »Warum haben Sie ihnen nicht verboten, außerhalb des
    Bahnhofs darüber zu sprechen?«, fragte Surin. »Hatten einige von ihnen ein Handy?«
    »Ein paar, ja.«
    »Und ein paar dieser Handys haben funktioniert?«
    »Ja.«
    »Sie hatten nichts anderes zu tun, als die Geschichte herumzuerzählen. »
    Fast hatte Arkadi Mitleid mit Surin. Putsch und Gegenputsch, Parteiherrschaft und kurze Demokratie, Fall des Rubels und Aufstieg der Millionäre - der Staatsanwalt war immer wieder an die Oberfläche
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