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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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Riegel vor die Sache schieben.«
    »Einen Riegel vor was? Jemand in der U-Bahn setzt eine Stalin-Maske auf, und Sie zerren die Leute aus dem Zug?«
    »Wir möchten es unter dem Deckel halten.«
    »Einen Jux?«
    »Das wissen wir nicht.«
    »Denken Sie an eine Massenhalluzination? Dann brauchen Sie Exorzisten oder Psychiater.«
    »Stellen Sie ihnen einfach ein paar Fragen. Die sind alt, es ist längst Schlafenszeit für sie.«
    »Nicht für die da.« Arkadi deutete mit dem Kopf auf einen bleistiftdürren Mann, der die Schülerin anbaggerte. Sie hatte offensichtlich Mühe, seinen Schmeicheleien zu widerstehen. »Selenski ist der Provokateur, da bin ich sicher. Wollen Sie mit ihm anfangen?«
    »Ich glaube, mit ihm werde ich aufhören.«
    Als Erstes ging Arkadi dahin, wo der letzte Wagen stehen geblieben war. Der Bahnsteig endete an einer Servicepforte und einer Tür. Er stemmte sich auf die Pforte und sah dahinter nichts als Elektrokabel. Die Tür war verschlossen. Vielleicht hatte die Bahnsteigaufseherin einen Schlüssel und irgendeine Vorstellung, wer auf den Zug gewartet haben könnte, aber dank Isakow und Urman war sie nicht mehr da.
    »Stimmt was nicht?«, fragte der Staatsanwalt.
    »Könnte nicht besser sein. Es gab nur diese beiden Sichtungen? Gestern Nacht und heute Nacht? Davor nichts?«
    »Nichts, nein.«
    Arkadi befragte einen Zeugen nach dem andern und ließ sich auf einer Skizze des U-Bahnwagens von jedem einzeichnen, wo er gesessen hatte. Der Rentner Antipenko gestand, er habe ein Buch gelesen und keine Zeit gehabt, seine Fernbrille aufzusetzen, bevor der Zug in die Station eingefahren war. Antipenkos älterer Freund Mendelejew hatte während der Fahrt geschlafen, aber er behauptete, er sei im Bahnhof aufgewacht. Keiner von ihnen hatte sich von dem Stalin auf dem Bahnsteig bedroht gefühlt. Im Gegenteil- zwei uralte Babuschkas sagten, sie hätten Stalin an seinem gütigen Lächeln erkannt, obwohl beide nicht gut genug sehen konnten, um die Bahnhofsuhr zu erkennen, als Arkadi sie dazu aufforderte. Ein anderer Pensionär trug eine so zerkratzte Brille, dass er die Welt nur verschwommen wahrnahm, und der letzte der alten Zeugen war nicht sicher, ob er Stalin gesehen hatte oder Väterchen Frost.
    »Sie waren die ganze Nacht auf«, sagte Arkadi zu ihm. »Vielleicht sind Sie müde.«
    »Man hat uns hier festgehalten. » »Das tut mir leid.«
    »Ich weiß, dass meine Enkelin sich Sorgen macht.«
    »Haben die Polizisten sie nicht angerufen und ihr gesagt, dass Sie später kommen?«
    »Ich wusste ihre Nummer nicht mehr.«
    »Vielleicht, wenn Sie mir Ihre Papiere zeigen …?«
    »Die hab ich verloren.«
    »Sie haben bestimmt irgendetwas bei sich.« Arkadi schlug den Mantel des alten Mannes auf. Am Jackenaufschlag steckte ein Schild mit einem Namen, einer Adresse und einer Telefonnummer, und außerdem die schmutzigen Bänder und Medaillen des Goldenen Sterns, des Leninordens, des Roten Sterns und des Ordens »Held der Sowjetununion« und so viele Feldzugsmedaillen, dass sie in überlappenden Reihen auf die Jackenbrust genäht waren. Dieser Tattergreis war einmal ein junger Soldat gewesen, der im Schutt von Stalingrad gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte. »Keine Sorge. Der Staatsanwalt wird Ihre Enkelin anrufen, und bald fährt die U-Bahn auch wieder.«
    Die Schülerin, Marfa Burdenowa, hatte ihre Aussage geändert, denn ihr war nicht ganz klar, wer Stalin war. Außerdem war sie über ihre Ausgehzeit hinaus unterwegs, und man hatte ihr nicht erlaubt, mit dem Handy zu Hause anzurufen. Das Mädchen war ein bisschen mollig, aber es war klar, dass sie bald eine Schönheit sein würde; sie hatte ein ovales Gesicht mit scharf geschnittener Nase und Kinn, große Augen und hellbraunes Haar, das sie sich genervt von der Wange pustete. » Der Netzempfang hier ist beschissen.«
    Von der Bank nebenan kam das Theaterflüstern des Filmemachers Selenski. »Dein Empfang ist beschissen, Schätzchen, weil du in einem Loch bist, in einem scheißtiefen Loch.« Er beugte sich in seiner verschlissenen Lederjacke nach vorn und sagte zu Arkadi: »Sie können denen die Köpfe verdrehen, solange Sie wollen, aber ich weiß, was ich gesehen habe. Ich habe heute Abend Josef Stalin auf diesem Bahnsteig stehen sehen. Schnurrbart, Uniform, verkürzter rechter Arm. Unverwechselbar.«
    »Welche Farbe hatten seine Augen?«
    »Es waren gelbe Augen. Wolfsaugen. »
    »Wladimir Selenski?«, fragte Arkadi, um sich zu vergewissern. Er spürte, dass
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