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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Autoren: Armistead Maupin
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weiteres Beratungsgespräch waren seine Nerven schon viel zu strapaziert. Er hatte fünf Stunden am Telefon mit Leuten gesprochen, die von ihren Liebhabern abserviert, von ihren Vermietern rausgesetzt und von Krankenhäusern abgewiesen worden waren. Für den Rest des Abends wollte er nur noch eines: Alles vergessen.

Schmerzliche Erfahrungen
    Es war fast Mitternacht, als Mary Ann nach Hause kam. In der verregneten Winterzeit hatte sich auf den Holzstufen der Treppe, die zur Barbary Lane führte, ein moosgrüner Glibber gebildet, deshalb stieg sie vorsichtig hinauf und hielt sich am Geländer fest, bis sie unter ihren Füßen den beruhigend rutschfesten Belag aus Eukalyptuslaub spürte. Als sie das überdachte Gartentor von Nummer 28 erreichte, sah sie, daß bei Michael noch Licht war. Das führte bei ihr zu einer gewissen Besorgnis und weckte einen Instinkt, den man durchaus mütterlich nennen konnte.
    Im Obergeschoß klopfte sie nach kurzem Zögern an seine Tür. Als er öffnete, wirkte er etwas zerzaust und verlegen. »Oh, hallo«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
    »Ich hoffe, du hast nicht geschlafen.«
    »Nein, ich hatte mich nur hingelegt. Komm doch rein.«
    Sie trat ins Zimmer. »Hast du zufällig meinen kleinen Coup mitgekriegt?«
    Er schüttelte den Kopf. »Aber hinterher davon erfahren. Im Castro wurde von nichts anderem gesprochen.«
    »Wirklich?« Die zweite Silbe rutschte ihr so hoch, daß es ein bißchen zu kindlich und begierig klang, doch sie lechzte nach Bestätigung. Ihre heimliche Angst war, daß ihr Auftritt unbeholfen und anfängerhaft gewirkt hatte. »Was haben die Leute denn so gesagt?«
    Er lächelte sie schläfrig an. »Was hättest du denn gern gehört?«
    »Mouse!« Sieben Jahre waren sie nun miteinander befreundet, und sie konnte noch immer nicht mit Sicherheit sagen, wann er sie auf den Arm nahm.
    »Beruhig dich, Schatz. Mein Kellner hat von dir geschwärmt.« Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. »Es überrascht mich allerdings, daß er den Hut nicht erwähnt hat.«
    Das war eine kalte Dusche. »Was ist mit dem Hut?«
    »Nichts«, hänselte er sie mit unbewegtem Pokergesicht.
    »Mouse …«
    »Der Hut ist absolut hübsch.«
    »Mouse, wenn jede Tucke in der Stadt über diesen Hut gelacht hat, dann sterbe ich. Hast du gehört? Ich verkriech mich unter dem nächsten Stein und sterbe.«
    Er ließ das Spielchen sein. »Er sieht fabelhaft aus. Du siehst fabelhaft aus. Komm … setz dich und erzähl mir alles.«
    »Das geht jetzt nicht. Ich wollte nur reinschauen … und hallo sagen.«
    Er sah sie kurz an, dann beugte er sich vor und gab ihr einen dezenten Kuß auf die Lippen. »Hallo.«
    »Bist du okay?« fragte sie.
    Er lächelte matt und zeichnete mit dem Zeigefinger eine Null in die Luft.
    »Geht mir auch so«, sagte sie.
    »Wahrscheinlich liegt’s am Regen.«
    »Wahrscheinlich, ja.« Es lag nie am Regen, und sie wußten es beide. Vom Regen ließ sich nur leichter reden. »Tja«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zur Tür, »Brian denkt bestimmt schon, mich gibt’s gar nicht mehr.«
    »Moment noch«, sagte Michael. »Ich hab was für ihn.« Er verschwand in der Küche, und als er wiederkam, hielt er ein Paar Rollschuhe in den Händen. »Vierundvierzig«, sagte er. »Ist das nicht Brians Schuhgröße?«
    Sie starrte die Rollschuhe an und spürte, wie der Schmerz sich wieder meldete.
    »Ich hab sie unter der Spüle gefunden«, erklärte ihr Michael und wich ihrem Blick aus. »Ich hab sie Jon vorletzte Weihnachten geschenkt, und ich hatte vollkommen vergessen, wo er sie verstaut hat. He … na komm.«
    Sie kämpfte gegen die Tränen an, doch es nützte nichts. »Entschuldige, Mouse. Es ist nicht fair von mir, aber … weißt du, manchmal überkommt es mich einfach so … Herrgott noch mal!« Ärgerlich wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. »Verdammt, wann hört das mal auf?«
    Michael stand da, die Rollschuhe an die Brust gedrückt, das Gesicht ganz verzerrt vor Kummer und Leid.
    »Ach, Mouse, es tut mir so leid. Ich bin eine solche Plunze.«
    Er brachte kein Wort heraus und nickte ihr verständnisvoll zu, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Sie nahm ihm die Rollschuhe ab und stellte sie auf den Boden. Dann drückte sie ihn an sich und strich ihm übers Haar. »Ich weiß, Mouse … ich weiß, Schatz. Es wird schon werden. Du wirst sehen.«
    Dabei fiel es ihr selbst schwer, daran zu glauben. Seit Jons Tod waren jetzt mehr als drei
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