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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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verzweifelte Lage aufmerksam machen und die mutwillige Vernichtung von Arbeitsplätzen verhindern. Als sie aber von der Kaserne abgezogen, in ihre Häuser zurückgekehrt waren, sollen sie kleine grüne Birken vor ihre Haustüren gestellt haben. Als Zeichen dafür, daß Zigeuner hier unerwünscht waren. Und ich mußte mir vorstellen, wie hübsch die sonst so nüchterne, in letzter Zeit durch ein paar grellbunte Werbeschilder aufgestylte einzige lange Straße der kleinen Stadt im Schmuck der grünen Birken ausgesehen haben und wie traurig diese Hübschheit gewesensein mochte. Und wie traurig es abends in den kleinen Stuben zugehen mochte, in denen den lieben langen Tag der Fernseher lief und der Mann nicht von der Arbeit nach Hause kam, sondern aus dem Schrebergarten oder aus der Kneipe oder von der Bank vor dem Haus, auf der er jetzt alle Stunden des Tages sitzen und Zeitung lesen konnte, die ihn nur noch wütender und mutloser machte, denn da las er – und liest er noch heute, was ich nicht wissen konnte, als wir bei dem Chinesen saßen und ich den anderen sagen sollte, was in Deutschland los sei –, er las und liest noch heute Arbeitslosenzahlen um die zwanzig Prozent, und die sind noch geschönt, und ich fragte mich und sagte es: Ich frage mich, wie man verhindern kann, daß immer ein falsches Signal auf ein anderes falsches Signal gesetzt wird, warum zum Beispiel, sagte ich, während die runde Platte mit den chinesischen Gerichten sich drehte, warum hat niemand mit den Leuten in der kleinen Stadt gesprochen, warum hat niemand sie gefragt, was sie eigentlich wollen, warum hat man es dazu kommen lassen, daß sie als fremdenfeindlich angeprangert wurden? Nein, hörte ich mich sagen, nein, ich glaube es nicht. Die Berichterstattung in euren Medien ist einseitig, als gebe es in Osteutschland nichts anderes mehr als brennende Asylbewerberheime. Das ist es doch, was man hier von den Deutschen erwartet. Aber es wird die Wiederholung nicht geben, vor der ihr euch fürchtet. Das werden wir nicht zulassen.
    Wer: Wir? fragte Francesco, das laute Echo der Frage, die ich mir im stillen selber stellte.
    Und übrigens, sagte Hanno, der Franzose, auf Ausgleich bedacht, übrigens ist das doch nicht das Problem eines Landes, oder einer Region. Die entscheidende Frage ist doch, wie dick und wie haltbar die Decke unserer Zivilisation ist. Wie viele vernichtete, sinnlose, perspektivlose Existenzen sie tragen kann, bis sie an dieser oder jener Stelle reißt, dort, wo sie mit heißer Nadel genäht ist.
    Und dann?
    Damals war ich noch sparsamer im Umgang mit dem WortBARBAREI, heute liegt es mir auf der Zunge. Die Nähte sind geplatzt, die unsere Zivilisation zusammenhielten, aus den Abgründen, die sich aufgetan haben, quillt das Unheil, bringt Türme zum Einsturz, läßt Bomben fallen, Menschen als Sprengkörper explodieren.
    Signale auf dem mehrspurigen Band, das in einer Endlosschleife in meinem Kopf lief, dessen eine Spur ohne mein Zutun besprochen wurde. Cuttern cuttern, unerwünschtes unbrauchbares Material, ins Unreine gedacht oder vielmehr gedacht worden, während auf einer der anderen Gedächtnisspuren andauernd ein Bildtongemisch aufgezeichnet wurde, Stadtgeräusche, die Tag und Nacht gegenwärtigen gemeinen Sirenen der Polizeiwagen, die, indem sie ihre Opfer verfolgten, aufjaulten wie gefährliche verwundete Tiere. Oder das kurze schrille Anschlagen einer Alarmanlage, wenn jemand einem der geheiligten Autos zu nahe gekommen war. Oder die Feuerwehr. Heulend raste sie in ihrer ganzen unglaublichen kindlichen Feuerwehrschönheit vorbei, immer direkt auf den Brand und die Kameras zu, die immer schon da waren und mir abends unvermeidlich die Leichen der Verbrannten und Verstümmelten und das Geschrei und die Tränen der Hinterbliebenen auf dem Bildschirm in mein Apartment apportierten, getreulich wie unerzogene Katzen jede einzige gefangene Maus, jeden einzigen der täglichen Ermordeten in dieser ungeheuren Stadt auf meine Schwelle legten, was ich zuerst geschehen ließ und wie eine Pflichtübung auf mich nahm, was gingen mich diese fremden Toten an, bis ich mich eines Abends damit überraschte, daß ich mitten in einem Verzweiflungsausbruch einer Mutter, deren kleiner Sohn bei den jüngst niedergegangenen Wolkenbrüchen von einem sonst harmlosen Bach mitgerissen und weggeschwemmt worden war, die rosa Austaste drückte. Diese kleine Geste machte mir klar, daß ich angekommen war und daß die verborgene Hoffnung, mich hier
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