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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste
Autoren: bayer
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inzwischen nahezu durch die gesamte Stadt hindurchgewohnt, hatte in fast allen sestieri gelebt, in Castello, Santa Croce, Dorsoduro, San Marco, San Polo. Jetzt wohnte sie in Cannaregio, wo die meisten Arbeiter dieser Stadt ihren Wohnsitz hatten.
    Sie war auf der Flucht gewesen vor etwas, das allmählich zu einem Hirngespinst herangewachsen war, wie Lea zu sagen pflegte. Diese ›Stadt der tausend Augen‹, die Lea damals zu sehen geglaubt hatte, war zu ihrer ›Stadt der tausend Augen‹ geworden. Augen, die sie beobachteten, bei Tag wie bei Nacht. Sterne, die von der Behörde an den Himmel gesteckt worden waren, um die Bürger bei all ihrem Tun zu überwachen.
    »Vertrau dich unseren Ärzten an«, hatte Lea eines Tages vorgeschlagen, als sie hilflos mit anschauen musste, wie die Freundin zunehmend unter ihren Ängsten litt. »Du bist nicht die einzige Christin, die jüdische Ärzte zu sich ins Haus ruft. Und du weißt, sie kommen auch bei Nacht. Sie sind die Einzigen, die das Ghetto selbst dann verlassen dürfen.«
    Aber sie hatte den Kopf geschüttelt, da sie kaum wusste, was sie diesen jüdischen Ärzten hätte erzählen sollen, oder Ärzten allgemein. Dass sie Angst hatte, panische Angst vor diesem Bartolomeo? Dass er sie bereits früher als Kind gequält hatte, sie in jener Nacht in der sala hatte knien lassen, Gebete hatte sprechen lassen, während sie in ihrem dünnen Nachthemd kaum wusste, wie sie das Zittern vermeiden konnte? War es einzig die Kälte oder die Furcht vor diesem ungeliebten Cousin, der nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Vater pflichtbewusst aufgenommen worden war?
    Der Palazzo war inzwischen zu ihr zurückgekehrt. Seit etwa zwei Jahren. Sie hatte wirklich um ihn gekämpft, hatte nicht nachgegeben, den betrügerischen Advokaten, mit dem Bartolomeo unter einer Decke gesteckt hatte, zu entlarven. Aber sie hatte diesen Palazzo nach ihrem Sieg genauso wenig besucht wie in der Zeit zuvor, als er ihr nicht gehörte.
    »Du wirst ihn verlieren«, hatte Lea sie gewarnt. »Neulich hat mir jemand erzählt, wie die Tauben in Schwärmen von der Altane abgeschwirrt sind, Möwen nisten in den Fensterbrüstungen, Katzen streifen über die Dächer.«
    Sie wusste, dass Lea nicht übertrieb, aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, ihre Angst vor diesem leeren Haus zu überwinden und es zu besuchen.
    »Wozu?«, fragte sie sich hundertmal. Was sollte eine allein stehende Frau mit einem leeren Haus, in dem einst mehr als zwanzig Menschen gelebt hatten?
    »Du könntest es vermieten«, hatte Lea vorgeschlagen, »ein Fernkaufmann könnte seine Waren im Zwischenstock lagern, wie einst euer Vater.«
    Sie könne das Haus nicht vermieten, hatte Crestina erwidert, es sei ein Stück ihres Lebens. Und außerdem ertrage sie nicht, dass wie in alten Zeiten im Mezzanin alles Mögliche gelagert werde, zum Beispiel Mumien, mit denen ihr Vater einst einen schwunghaften Handel betrieben hatte. Sie hatte sich als Kind halb zu Tode geängstigt, als sie aus Versehen einmal in die Räume geriet, in der diese Reliquien aufbewahrt waren.
    Lea hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Reliquien! Als ob es unbedingt Mumien sein müssten, wenn hier jemand einziehe. Und im Übrigen könne man diesen Palazzo auch ohne weiteres verkaufen, irgendwer würde ihn ganz gewiss wollen, wenn er nur erst wieder in Stand gesetzt sei.
    Sie könne nicht das Herz ihrer Familie verkaufen, hatte sie abgewehrt, empört über diese Idee.
    »Er wird zerstört werden«, hatte Lea gedrängt, »genauso wie die Villa an der Brenta, die schon halb verfallen war, bevor sie jetzt jemand gekauft hat, der sie hoffentlich liebt. Und mit der limonaia wird es nicht anders gehen. Dabei müsstest du dieses Haus doch gewiss lieben.«
    Die limonaia, der Ort, an dem die Gärtner im Herbst die Zitronenbäume und die übrigen Zitrusfrüchte unterbrachten, hatte immer ihr gehört, sie war nie Gegenstand dieses heimtückischen Testaments gewesen, von dem sie ganz sicher war, dass es gefälscht worden war. Die limonaia hatte ihr Vater bereits zu Lebzeiten an seine Kinder vererbt, ohne dass er ihnen davon zunächst erzählt hatte. Erst als sie von der Pestinsel zurückgekehrt war, hatte sie es aus seinen Papieren erfahren.
    Sie blickte auf die Straße hinunter, sah zu, wie der Wind das Wasser gleich einem Geschoss auf die Hauswände zutrieb, und für einen Augenblick bereute sie, in ein Haus eingezogen zu sein, das am Wasser lag, an einem Seitenarm des Kanals. Aber auch
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