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Spur ins Eis

Spur ins Eis

Titel: Spur ins Eis
Autoren: Blake Crouch
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Gesicht wie tausend feine Nadeln.
    Es war eine helle Nacht mit einem riesigen Mond und sternenklar, aber vor ihren Augen wurde es immer dunkler. Nach etwa zehn Metern blickte sie zurück und sah den Kopf eines Wolfes aus dem Schnee auftauchen. Wie Delphinschwimmer kämpften sich die Wölfe durch den Schnee.
    Will dachte : Ich bin nicht tot. Er setzte sich auf. Wie lange er bewusstlos gewesen war, wusste er nicht. Einen Moment lang sah er nur einen weißen Rahmen. Jemand, vermutlich Devlin, rief nach ihm, aber ihre Stimme war weit weg und undeutlich.
    Langsam sah er wieder klarer, konnte Licht und Schatten unterscheiden. Rachael saß hinter ihm, ihre Hose war schwarz von der Detonation.
    »Bist du okay ?«, fragte sie. Aber er brachte keinen Ton hervor.
    Devlin kniete vor ihm, und er versuchte, ihr an den Lippen abzulesen, was sie sagte, aber es gelang ihm nicht.
    Er rappelte sich auf und taumelte gegen die Wand.
    Kalyn bewegte sich jetzt schneller. Sie stöhnte bei jedem Schritt. Als sie das nächste Mal aufblickte, sah sie, dass sie vom Kurs abgekommen war und auf den See und den Steg mit den Wasserflugzeugen zumarschierte.
    Die Wölfe waren immer noch hinter ihr her. Von dem weißen Wolf sah sie nur die Augen.
    Sie erreichte das Ufer, wo kleine Wellen an den verschneiten Strand schlugen.
    Die Wölfe kamen näher.
    Sie blickte zum Eingang der Lodge, und da kam er durch den Schnee auf sie zugewatet, einen schwarzen Rucksack über die Schulter geschlungen, eine Maschinenpistole in der einen, eine Mossberg in der anderen Hand.
    Der Schuss aus der Beretta durchdrang die Stille, und Kalyn sah, wie die Wölfe im Schnee verschwanden. Und dort würden sie bleiben bis zum nächsten Juni, wenn es taute und die Aasfresser kamen.
    Javier blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Der schwarze Rucksack war von Schrotkugeln durchsiebt.
    »Du blutest«, sagte er.
    Kalyn stand zitternd in der Kälte. »Dein Freund hat ›Fass sie nicht an‹ ziemlich großzügig interpretiert.«
    »Du hast ihn getötet.«
    Sie nickte.
    Javier blickte zur Lodge. »Jetzt gibt es nur noch uns beide und die Innises.«
    Kalyn spürte, wie Blut warm in ihren Stiefel tröpfelte.
    »Und ?«, fragte Javier und schraubte den Schalldämpfer von der Beretta ab. »Sollen wir ?«
    »Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten, Will.«
    »Langsam kommt mein Gleichgewichtsgefühl zurück.« Er nahm Devlins Gewehr. »Ihr beide bleibt hier. Wie geht es deinem Bein ?«
    »Es tut ziemlich weh.«
    »Trotzdem, du hast noch Glück gehabt. Die Blendgranate ist direkt vor dir losgegangen.«
    »Was ist eine Blendgranate ?«, fragte Devlin.
    »Eine Granate, die nur einen hellen Lichtblitz produziert.«
    Irgendwo hinter Ethans Raum donnerte ein Schuss.
    »Ist das hier drinnen ?«, fragte Rachael.
    »Ich weiß nicht.«
    Das Stakkato von Maschinengewehrschüssen war zu hören. Hier drinnen im Haus hörte es sich so an wie Perlen, die auf einen Glastisch sprangen.
    Will trat in den Flur und machte die Tür hinter sich zu. In seinen Ohren rauschte es immer noch, und er konnte seine eigenen Schritte nicht hören, als er die Treppe herunter in den Durchgang lief.
    Der Wind heulte und trieb den Schnee hoch vor ihm auf.
    Kurz sah Will die Blutflecken am Seeufer, aber dann waren sie unter dem Schnee verborgen.
    Wellen der Übelkeit überschwemmten ihn.
    Er sah Spuren, die vom See in den Wald zu führen schienen, aber bei dem heftigen Wind verschwanden sie vor seinen Augen.
    Er brach zusammen, kämpfte sich wieder hoch und versuchte, den Spuren zum Waldrand zu folgen. Seine Wangen brannten in der eisigen Kälte.
    Vor neun Tagen war Kalyn Sharp zu ihm nach Hause nach Colorado gekommen.
    Ist es vorbei ?, fragte er sich. Mittlerweile konnte ihn nichts mehr überraschen.
    Erleichterung stieg in ihm auf bei dem Gedanken, dass sie sich hier draußen möglicherweise gegenseitig umbrachten.
    Nach zehn qualvollen Schritten blieb er stehen. Er hatte nicht mehr die Kraft, in den Wald zu laufen und im meterhohen Schnee nach ihren Leichen zu suchen. Er konnte kaum das Gleichgewicht halten. Aber er ging immer weiter – todmüde –, obwohl er eigentlich am liebsten ein Feuer im Kamin in der Bibliothek gemacht hätte und eingeschlafen wäre, mit Devlin und Rachael in den Armen.

73
    Talisman
    Devlin wurde in den Sitz gedrückt, als das große Wasserflugzeug sich in die Luft erhob. Der See verschwand im Dunst, die Lodge und die Flugzeuge am Steg wurden klein wie Kinderspielzeug.
    Das Propellergeräusch
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