Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Veranstaltung in Garmisch bei den Richard-Strauss-Tagen klar. Ich moderierte dort ein Gespräch mit den weltberühmten Sängerinnen Inge Borkh, Martha Mödl und Hildegard Behrens. Ich will nicht verhehlen, dass ich vor dem Gespräch reichlich Bammel hatte. Im Rückblick muss ich sagen: Bewundernswert, wie vernünftig und selbstkritisch die Damen argumentierten. Martha Mödl führte ich einen kurzen Ausschnitt aus der Oper Die Frau ohne Schatten vor, sie sang darin die Amme, eine ziemlich miese Sache. Kaum war der letzte Akkord verklungen, fragte ich: »Wie fanden Sie es denn?« Da antwortete sie eiskalt: »Entsetzlich!«
Pianisten, Geiger, Cellisten und Sänger können allein mit ihrer Kunstfertigkeit auf sich aufmerksam machen, sich in Wettbewerben profilieren. Scheitern sie, dann scheitern sie an ihrem Instrument. Hochbegabte Pianisten, Geiger, Cellisten und Sänger, die unbekannt und erfolglos sind, wird es nicht viele geben. Früher oder später setzen sie sich durch. Anders verhält es sich bei Dirigenten. Deren Erfolg hängt stärker vom richtigen Mentor ab. Außerdem: Wer als Dirigent nicht mit guten Orchestern in Berührung kommt, wer nicht die Chance hat, an kleinen Opernhäusern ein bisschen Routine zu erwerben, wer sich nicht entwickeln und Erfahrungen sammeln kann, der
mag zwar vielleicht eine dirigentische Begabung besitzen, aber seine Begabung wird sich nicht durchsetzen können – egal wie ehrgeizig und fleißig er ist. Ungerecht? Ja. Erfolg ist keine Frage der Gerechtigkeit.
Glaube und Technik
Was machte Karl Richter so einzigartig?
Karl Richter war ein genialer Bach-Interpret. Was er schuf, hat Bestand jenseits aller Moden, Stile und Haltungen, die die Zeit immer wieder neu hervorbringt. Als Gründer und Leiter des Münchner Bach-Chores sowie des Bach-Orchesters war er zudem eine Idealbesetzung. Dieses Urteil bleibt auch dann gültig, wenn man bedenkt, dass nachgeborene Chorleiter und Dirigenten wie Ton Koopman und John Eliot Gardiner ebenfalls mit ausgezeichneten Bach-Interpretationen die Freunde historischer Aufführungspraxis überzeugen konnten.
Als virtuoser Organist und typischer sächsischer Kantor war Karl Richter erfüllt von Bach. Er durchdrang ihn geistig, weshalb er nie einfach nur ein Programm abspulte. Gleichwohl spielten technische Fertigkeiten eine große Rolle bei ihm. Offen, wie er war, konnte er Bach auf höchst unterschiedliche Weisen dirigieren und brauchte darum die reaktionsschnelle Flexibilität und Jugendlichkeit des von ihm in den 1950er Jahren zusammengestellten Bach-Chores.
Um sein Ingenium entfalten zu können, überließ sich Karl Richter seinem tiefgründigen Instinkt. Gut beobachten konnte man das in den Passionen mit den wunderbar harmonisierten Chorälen. Manchmal ließ sie Richter leise und zart vortragen, wie die Klage eines Einzelnen; manchmal laut und mächtig, als ob die ganze Gemeinde mitsinge.
Ich traf mich mit Karl Richter regelmäßig in München im Restaurant des Hotels »Vier Jahreszeiten« zur Fachsimpelei, bei der er auch Widerspruch duldete. Musik begriff er als eine Mischung aus Glaube und pulsierendem Leben. Einmal fragte ich ihn, ob er kurz vor Beginn der h-Moll-Messe – er dirigierte sie meisterhaft bei den Ansbacher Bachfesten – genau wisse, wie er sie anfangen und weiterentwickeln werde. Er erklärte mir: »Wissen Sie, einerseits weiß ich genau, mit welchem Tempo ich die ersten Takte schlage, andererseits habe ich nur ein ungefähres Bild vor Augen. Und das geht dann irgendwie zusammen.« Das war natürlich eine Ausrede, aber was sollte er sonst auch sagen? Hätte er mir das Geheimnis seiner Musizierkunst offenbaren sollen – oder überhaupt können?
In den 1960er Jahren entstanden viele weitere berührende, unvergleichliche Aufführungen von und mit Richter. Dann heiratete er eine Schweizerin und zog nach Zürich. Von dieser Zeit an war er nicht mehr von morgens bis abends für seine Chormitglieder ansprechbar, manchmal landete das Flugzeug nicht pünktlich, oder er meinte, er könne sich vertreten lassen. So beschlich die Chormitglieder langsam aber sicher das Gefühl, dass ihm die Arbeit nicht mehr so wichtig sei. Das wiederum führte dazu, dass auch sie die Arbeit nicht mehr so ernst nahmen. Sie waren schließlich alle ehrenamtlich, also unbezahlt dabei.
Später machte das boshafte Wort die Runde, Karl Richter sähe aus wie ein »stigmatisierter Jungmetzger«. All jene, die in Richters Klangwelten eingetaucht waren,
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