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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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eine marginale und vorübergehende Rolle in den Universen seiner Gäste spielt. Die meisten Barkeeper bekommen nur die Lebenslügen ihrer Stammgäste zu hören, doch Flughafenbars haben keine Stammgäste – nur entwurzelte und zeitweilig enthemmte Trinker. Rick betrachtet sich selbst als goldenen Labrador, bei dem Menschen auf der Straße stehen bleiben, um frei assoziierend ihr Inneres zu entblößen: Eieiei, bist du aber ein hübscher kleiner Hund! Weißt du was? Mich haben sie beim Wichsen in der Besenkammer erwischt, deswegen bin ich gefeuert worden, nicht wegen Whistleblowing, wie ich meiner Frau weisgemacht habe. He, kann ich noch ein paar von den Nüssen haben – vielleicht ein Schälchen, wo auch ausnahmsweise ganze Cashews drin sind und nicht bloß zerbröckelte?
    Rick wünschte, es käme irgendwann jemand herein und würde sich als der zu erkennen geben, der damals Ricks Pick-up mitsamt seinen ganzen Gartengeräten gestohlen hatte, aber er weiß, dass damit wohl kaum zu rechnen ist und dass er, wenn er ehrlich ist, seine Karriere als Landschaftsgärtner genauso versoffen hat wie seine Ersparnisse und sein Besuchsrecht. Er steht nun da mit nichts außer seinem Perma-Sonnenbrand und einer finsteren Ausstrahlung, die Frauen, die ihn eigentlich mögen müssten, verscheucht, obwohl er im Lauf seines sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Niedergangs zu einem guten Zuhörer geworden ist, und Frauen mögen Männer, die zuhören können. Angeblich.
    Na ja. Rick ist mittlerweile völlig abgeklärt. Gewissermaßen. Doch so ganz allgemein fragt er sich doch, warum wir für siebzig und ein paar gequetschte Jahre in unseren Körpern gefangen sind und nicht ein einziges Mal in dieser ganzen Zeit zum Beispiel unseren Körper in irgendeiner Höhle ablegen können, um mal fünf Minuten Pause zu machen und den Fesseln der Erde zu entschweben.
    Zumindest macht Musik es einem möglich, seinem Körper zu entkommen – auf ihre ureigene Weise. Rick trauert Lenny, dem Barpianisten, nach, der vor zwei Wochen gefeuert worden ist, weil er zu den Stücken, die er spielte, ständig neue Texte erfand. Rick war daran gewöhnt, aber die Gäste fanden es scheußlich. Als der Nachtmanager Lenny für die dritte und letzte Abmahnung in den Thekenbereich zitierte, sagte Lenny: »Die Texte sind für einen Song nicht das Entscheidende. Meistens erinnert man sich gar nicht an den Text seines Lieblingsstücks, und deswegen mag man es – weil einem der Text gefällt, den man sich selber ausdenkt, um die Lücken aufzufüllen. Ein gutes Stück zwingt dich, einen eigenen Text zu erfinden.«
    »Das sind die verdammten Beatles mit ihrem beschissenen ›Yesterday‹, Lenny. Man erfindet zu einem der berühmtesten Songs aller Zeiten keinen eigenen Text.«
    »Ich bringe mich selbst in das Stück ein. Ich bin Künstler. Menschen, die Musik hören, sind wie Menschen, die Romane lesen: Für ein paar Minuten, für ein paar Stunden kommt jemand anderes, um den Teil deines Hirns, der immerzu nachdenkt, zu entführen. Ein gutes Buch oder ein guter Song reißen die Gewalt über deine innere Stimme an sich und übernehmen das Ruder. Weil der Künstler das Sagen hat, kannst du für eine Weile deinen Körper verlassen und jemand anderer sein.«
    Armer Lenny, den Job ist er los, aber Rick erinnert sich, was Lenny darüber gesagt hat, für einen Moment den eigenen Körper zu verlassen – er erinnert sich, weil ihm das gefallen hat –, und in Gedenken an Lenny dreht er die Miles-Davis- CD lauter, die gerade läuft – Musik ohne Text. Statt einen Text zur Musik zu erfinden, erfindet dein Körper Emotionen zur Musik.
    Rick entdeckt eine Glasscherbe von der Flasche Südhalbkugel-Chardonnay, die ihm gestern Abend hingefallen ist. Als er sich bückt, um sie aufzuheben, muss er an Tylers siebten Geburtstag denken, an dem er mit seinem Sohn in einem Schlafzimmer-Fort aus Whiskykartons, Decken und Sofakissen gehockt hat, und ihm fällt ein, wie er mit einer Taschenlampe durch seine und Tylers Finger geleuchtet hat, um seinen Sohn davon zu überzeugen, dass Menschen aus Blut bestehen. Er vermisst die guten Tage und erinnert sich wehmütig der seltenen Morgenstunden, an denen ihm wie durch ein Wunder ein Kater erspart geblieben war und sein Kopf sich angefühlt hatte wie ein Haus im Spätfrühling mit weit aufgerissenen Fenstern und Türen. Und er wünschte, er hätte an jenem Abend, als er sich um Tyler kümmern durfte, während seine Exfrau auf dem
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