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Spielen: Roman (German Edition)

Spielen: Roman (German Edition)

Titel: Spielen: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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die Füchse und die Wasserrohre waren konkrete und gegenständliche Bedrohungen, und das hielt sie an einem festen Ort, sie waren entweder da oder nicht da. Der kopflose Mann und das grinsende Skelett gehörten dagegen zu den Toten und ließen sich nicht auf einen Ort festlegen, sie konnten überall sein, im Schrank, wenn man ihn in der Dunkelheit öffnete, auf der Treppe, wenn man sie hinaufstieg, im Wald, ja sogar unter dem Bett oder im Badezimmer. Mein eigenes Spiegelbild in den Fensterscheiben verknüpfte ich mit diesen Geschöpfen aus dem Totenreich, vielleicht auch, weil es nur entstand, wenn es draußen dunkel war, aber es war ein schrecklicher Gedanke, sein eigenes Spiegelbild in dem schwarzen Glas zu erblicken und zu denken, dieses Bild bin nicht ich, sondern ein Toter, der mich anstarrt.
    Im Jahr unserer Einschulung glaubte von uns keiner mehr an Wassergeister, Wichtel oder Trolle, wer das tat, den lachten wir aus, aber die Vorstellung von Geistern und Gespenstern blieb lebendig, vielleicht auch, weil wir es nicht wagten, unsere Augen davor zu verschließen; immerhin gab es tote Menschen, das wussten wir, jeder von uns. Andere Vorstellungen aus dem gleichen schillernden Bereich, dem der Mythologie, waren heiterer und unschuldiger, zum Beispiel die vom Regenbogen, an dessen Fuß ein Schatz liegen sollte. Selbst in jenem Herbst, in dem wir in die erste Klasse kamen, glaubten wir noch so fest daran, dass wir uns auf die Jagd nach ihm machten. Es muss an einem Samstag im September gewesen sein, es hatte den ganzen Vormittag geregnet, und wir spielten auf der Straße unterhalb des Hauses, in dem Geir Håkon wohnte, oder genauer gesagt, im Straßengraben, in dem Wasser stand. An dieser Stelle verlief die Straße an einer fortgesprengten Felswand vorbei, von deren moos-, gras- und erdbedeckter Kuppe Wasser herunterlief und -tropfte. Wir trugen Gummistiefel, dicke Regenhosen und Regenjacken in leuchtenden Farben und hatten die Kapuzen aufgezogen, so dass alle Geräusche sich verschoben, die eigenen Atemzüge und die Bewegungen des eigenen Kopfs; die Ohren, die über die Innenseite der Kapuze schabten, erklangen laut und deutlich, während alles andere gedämpft wurde und in weiter Ferne vorzugehen schien. Zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Straße und rund um die Kuppe des Bergs über uns hing dichter Nebel. Die orangen Häuserdächer, die zu beiden Seiten der abwärtsführenden Straße lagen, schimmerten matt im grauen Licht. Über dem Wald am Fuße des Anstiegs hing der Himmel wie ein anschwellender Bauch, durchdrungen vom strömenden Regen, der unablässig leise auf die Kapuze und die momentan überempfindlichen Ohren trommelte.
    Wir bauten einen Damm, aber der Sand, den wir aufschaufelten, rieselte immer wieder herunter, und als uns Jacobsens Auto ins Auge fiel, das die Straße heraufkam, zögerten wir nicht lange, sondern warfen die Schaufeln fort und liefen zu ihrem Haus, vor dem der Wagen gerade hielt. Hinter dem Auspuffrohr schwebte ein bläulicher Streifen Rauch in der Luft. Auf der einen Seite stieg der Vater aus. Spindeldürr, mit einem Zigarettenstummel im Mundwinkel, bückte er sich, zog den Hebel am unteren Ende des Fahrersitzes hoch und kippte ihn nach vorn, damit seine beiden Söhne, Store-Geir und Trond, aussteigen konnten, während die Mutter, klein, rundlich, rothaarig und blass, auf der anderen Seite ihre Tochter Wenche herausließ.
    »Hallo«, sagten wir.
    »Hallo«, grüßten Geir und Trond.
    »Wo seid ihr gewesen?«
    »In der Stadt.«
    »Hallo, Jungs«, sagte der Vater.
    »Hallo«, erwiderten wir.
    »Wollt ihr mal hören, was siebenhundertundsiebenundsiebzig auf Deutsch heißt?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Siebenhundert-und-siebundsiebsich!«, sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Ha, ha, ha!«
    Wir lachten auch. Sein Lachen ging in ein Husten über.
    »Na gut«, sagte er, als es vorbei war, steckte den Schlüssel ins Schloss der Autotür und drehte ihn. Die ganze Zeit über zuckten seine Lippen und ein Auge.
    »Wo wollt ihr hin?«, erkundigte sich Trond.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich.
    »Kann ich mitkommen?«
    »Klar.«
    Trond war genauso alt wie Geir und ich, aber viel kleiner. Seine Augen waren kugelrund, seine Unterlippe war dick und rot, die Nase klein. Über diesem fast puppenhaften Gesicht wuchsen blonde und krause Haare. Sein Bruder sah ganz anders aus; seine Augen waren schmal und listig und grinsten oft spöttisch, seine Haare waren glatt und strohbraun, die
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