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Spiegelschatten (German Edition)

Spiegelschatten (German Edition)

Titel: Spiegelschatten (German Edition)
Autoren: Monika Feth
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Manche blieben nur ein oder zwei Semester als Gastdozenten im Orson. Volker Thaddäus jedoch, ein begnadeter Theaterschauspieler, war bereits seit einigen Jahren als Lehrer hier beschäftigt.
    Er forderte viel und lobte wenig. Seine Autorität musste er sich nicht erkämpfen. Hatte man ihn ein einziges Mal auf der Bühne gesehen, schrumpfte man zu einem winzigen Kern aus Andacht und Ehrfurcht.
    Thaddäus war klein und dünn und wirkte absolut durchschnittlich. Der Typ Mann, der in jeder Menge verschwindet. Doch gerade wegen seines unscheinbaren Äußeren war er extrem wandelbar. Auf der Bühne wuchs er über sich selbst hinaus. Seine Stimme konnte piepsig klingen und gewaltig. Er konnte ihr eine ängstliche Brüchigkeit verleihen oder eine schneidende Härte. Plötzlich vergaß man den Schauspieler, sah nur die Rolle.
    Calypso verehrte und fürchtete ihn.
    Ihm war vor Aufregung schlecht.
    Als er mit Leon vorn stand und nachdem sie die ersten Sätze gesprochen hatten, verschwand die Angst, die sein Herz den ganzen Morgen umklammert hatte. Er fiel in die Szene und ließ sich treiben. Es war kein Text vorgegeben. Jedes Paar hatte fünfzehn Minuten, die es mit eigenen Worten füllen sollte.
    Calypso und Leon spielten ein schwules Paar, auch wenn alle erwartet hatten, einer von ihnen werde in die Rolle einer Frau schlüpfen. Die andern hatten den ganzen Tag gestichelt und blöde Witze gerissen, die ihnen jedoch jetzt, nachdem Calypso und Leon zu spielen begonnen hatten, im Hals stecken blieben.
    In Leons Worten war eine Doppelbödigkeit, die einem Schauer über den Rücken laufen ließ. Obwohl sie ihre Szene mehrmals geprobt hatten, bekam selbst Calypso Gänsehaut. Er sah Entsetzen, Verwirrung und blanken Wahnsinn in den Augen seines Freundes.
    Plötzlich fand er sich im kalten Licht eines Klinikflurs wieder. Eine defekte Neonröhre flackerte an der Decke. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten.
    Und nach Angst.
    Leon hatte aufgehört zu reden, doch seine Lippen bewegten sich stumm weiter.
    Er weinte …
    Als sie fertig waren, herrschte Stille. Die andern starrten sie an. Thaddäus blickte stirnrunzelnd auf seinen Notizblock nieder.
    Lusina bewegte sich als Erste. Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, und es schien ihr gleichgültig zu sein, was mit ihrem kunstvollen Make-up passierte.
    Calypso erwachte aus seiner Benommenheit. Er hatte Schwierigkeiten, in die Gegenwart zurückzukehren. Auch Leon schien das so zu empfinden. Er rieb sich über das Gesicht, riss die Augen auf und blinzelte.
    » Ganz ordentlich.« Thaddäus räusperte sich.
    Manchmal sagte er auch nur nun ja. Oder hmmm. Dagegen war ganz ordentlich ein Quantensprung.
    Calypso merkte, wie eine tiefe Müdigkeit von ihm Besitz ergriff. Er fühlte sich ausgelaugt. Als hätte er in einem wahren Kraftakt sein Innerstes nach außen gekehrt. Und nun kam er nicht mehr zu sich.
    Vielleicht gehörte das dazu. Vielleicht verlor man jedes Mal ein Stück von sich selbst. Und wurde so im Lauf der Jahre zu einer anderen Person. Einer Kunstfigur, die sich aus ungezählten literarischen Impulsen zusammensetzte, aus den Gedanken von Schriftstellern, Regisseuren und…
    » Cal.« Lusina stupste ihn mit dem Ellbogen an.
    Thaddäus verließ gerade den Raum. Kaffeepause. Nach einer Viertelstunde würde es weitergehen.
    Noch immer benommen und wie von fern, hörte Calypso den andern zu, die sich über die Leistungen der Einzelnen unterhielten. Er hatte etwas begriffen. Seine Entscheidung, die Banklehre hinzuwerfen, war richtig gewesen. Das hier war es, was er brauchte. Es faszinierte, verstörte und begeisterte ihn. Vor allem jedoch machte es ihn glücklich.
    Er zog sich in eine etwas ruhigere Ecke zurück und wählte Romys Nummer.
    » Hi«, meldete sie sich.
    Er liebte dieses Mädchen mit Haut und Haar. Er war sogar verrückt nach ihrer Stimme, besonders am Telefon, wo sie immer ein wenig atemlos klang.
    » Ich werde Schauspieler«, platzte er heraus.
    » Ach?« Romy lachte leise. » Besuchst du nicht genau aus diesem Grund eine Schauspielschule?«
    Er hatte keine Zeit für lange Erklärungen.
    » Ja«, antwortete er ungeduldig. » Aber jetzt weiß ich es.«
    Er schmatzte einen Kuss ins Handy, steckte es wieder weg und stellte sich ans Fenster. Der Blick ging in den kleinen Park hinaus, auf noch winterdürre Bäume und mit Nässe vollgesogenes Gras. Er war froh, dass der Unterricht hauptsächlich hier stattfand, in diesem wunderschönen alten Gutshof in der
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