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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Autoren: Georg Mascolo
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weniger Junge werden künftig mehr Senioren gegenüberstehen – trifft alle Unternehmen gleichermaßen, den multinationalen Konzern wie den Handwerksmeister in der Nachbarschaft. Im Jahr 2020 wird jeder dritte Arbeitnehmer über fünfzig sein.
    Beim Pharma- und Chemiekonzern Bayer in Leverkusen liegt das Durchschnittsalter in den Werken je nach Standort zwischen 40 und 43 Jahren. Bereits in wenigen Jahren wird es auch hier auf 50 Jahre gestiegen sein. Was auf den ersten Blick wenig aufsehenerregend scheint, hat drastische Konsequenzen.
    "Wir haben heute noch keinerlei Erfahrung mit den Folgen der körperlichen und psychischen Belastung von 60-jährigen Arbeitnehmern", sagt Horst-Uwe Groh, Personalleiter bei Bayer. Die älteren Arbeitnehmer müssen in kleineren Betriebsteams als früher arbeiten, deren Belastungen zugleich größer geworden sind.
    Die Lösung des Problems werden die Unternehmen allein nicht leisten können. In der chemischen Industrie gilt ein Tarifvertrag, der es älteren Arbeitnehmern über 59 Jahren erlaubt, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Den Gehaltsverzicht gleicht zum Teil ein neu geschaffener Demografiefonds aus, in den jedes Unternehmen für seine Mitarbeiter ein-zahlt.
    Eine weitere, nicht weniger weitreichende Dimension des demografischen Wandels hat kaum ein Unternehmen im Blick. Zu den größten Stressfaktoren im Arbeitsleben gehört die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
    Wenn das allgemeine Klagen anhebt, ist vor allem von mangelnden Kinderbetreuungsplätzen die Rede. Bayer unterhält an mehreren Standorten eigene Kindertagesstätten. "Doch bei unserem sozialen Dienst melden sich mittlerweile überforderte Mitarbeiter, die nicht mehr wissen, wie sie ihren Beruf und die Pflege ihrer Eltern unter einen Hut bringen sollen", sagt Groh. Deshalb hilft der Chemieriese seinen Angestellten jetzt auch bei der Suche nach qualifizierten Pflegekräften oder Heimen und übernimmt die Kosten der Vermittlung.
    War der technische Fortschritt nicht auch immer an das Versprechen gekoppelt, er schaffe mehr Zeit? 1949 beschrieb der französische Sozialwissenschaftler Jean Fourastié eine Dienstleistungsgesellschaft mit Wohlstand und einem Leben in Annehmlichkeit für alle. Noch in den siebziger Jahren glaubten Soziologen, die Menschheit wäre auf dem Weg in eine Freizeitgesellschaft, deren größtes Problem die Langeweile sei.
    Die Paradoxie der Moderne ist indes: Wir gewinnen Zeit im Überfluss – und sehen sie zugleich immer schneller verrinnen.
    Gemessen an den Reisezeiten scheint die Welt seit der industriellen Revolution auf etwa ein Fünfzigstel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft zu sein (siehe Grafik Seite 63). Natürlich spart das Zeit. Aber wer Autos und Flugzeuge nutzt, plant auch anders.
    Und das exponentiell wachsende kollektive Wissen der Gesellschaft bedeutet, dass im Verhältnis der Einzelne immer weniger weiß und ständig nachsitzen muss. Er ist permanent damit beschäftigt, Passwörter, Adressen und Know-how zu aktualisieren oder Anleitungen der neuesten Generation von Handy oder Computer zu verarbeiten.
    "Die Zeit wird uns wirklich knapp", sagt der Soziologe und Beschleunigungsforscher Rosa. Für ihn gehört es zu den großen Missverständnissen, zu glauben, wir könnten selbst über unsere Zeit verfügen. "Es ist ein strukturelles Problem: Wenn sich die ganze Gesellschaft beschleunigt, kann ich individuell nicht langsamer werden."
    Und so bricht der rasende Stillstand aus. Alle werden hektisch immer schneller, nicht, um vorwärtszukommen wie früher, sondern um den Anschluss nicht zu verpassen. Das Phänomen ist mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft angekommen. Ob im Gesundheitswesen, im akademischen Alltag oder im Öffentlichen Dienst: Überall wird nach Auswegen aus dem Dilemma gesucht. Und nur wenige können es sich leisten, ihm so zu entfliehen wie Klaus-Dieter Sparr.
    Jahrelang leitete er als Chefarzt die Klinik für Kinderheilkunde in Bad Saarow zwischen Berlin und Frankfurt (Oder). Er hat alles erlebt, die DDR, die Wende, die Privatisierung, den Wettbewerbsdruck, den Renditehunger des Klinikkonzerns Helios. Als Sparrs Krankenhaus 1991 in die Privatwirtschaft entlassen wurde, hatte seine Station rund 60 Betten und knapp 1000 Patienten pro Jahr. Heute sind es 28 Betten und rund 1600 Patienten.
    Die Abteilung hat exakt 5,5 Planstellen für Ärzte – vor 20 Jahren waren es doppelt so viele. "Besser lässt sich Verdichtung von Arbeit nicht
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