Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
Vom Netzwerk:
etwas zu sehen geben. Er weiß nicht, wie lange er vor ihrem reglosen Körper gehockt und sie betrachtet hat. Irgendwann beugte er sich vor, schloß ihre Augen und zog die Nadel mit einer vorsichtigen Bewegung aus ihrem Arm, bevor er eine der Kellnerinnen bat, einen Krankenwagen zu rufen. Als er in die Toilettenkabine zurückkehrte, war Erins linkes Auge wieder geöffnet. Automatisch , dachte Wolf und verspürte dennoch Hoffnung, aber da war keine Atmung, da war kein Puls. Er ging an den Tisch zurück, setzte sich und wartete, bis die Polizei kam. Er wollte nicht wissen, was sie zu sagen hatten. Er wollte gar nichts wissen. Aber er konnte nicht gehen. Er konnte Erin nicht einfach auf der Toilette dieses Cafés zurücklassen. Allein.
     
    Aus diesem Grund gibt es Tage, an denen er sogar seinen Freunden ausweicht. Er will an diesen Tagen nicht sein oder daran erinnert werden, daß er existiert. Er weiß, daß das absurd klingt. Aber der Versuch, sich selbst aus dem Weg zu gehen, ist ja an sich schon absurd. Wolf will einfach nur funktionieren, mit dem Schuldgefühl an seiner Seite und der Melancholie im Kopf. Die goldene Frage ist, wie lange man das machen kann, ohne sich dabei wie ein Idiot vorzukommen.
     
    – Sieh mal an, ruft Wolf quer durch Woolworth, die Frauke! Frauke dreht sich überrascht um. Wolf spürt, wie sein Herz sich zusammenzieht.
    Diese Freude.
    – Ja, sieh mal an, ruft Frauke zurück, der Wolf!
     
    Während der Schulzeit war Wolf zwei Klassenstufen unter der seines Bruders. Der kleine Wolf, der so anders war als der große Kris – witziger, lauter, präsenter. Er wurde von Kris’ Clique wie ein Maskottchen behandelt. Sie nahmen ihn mit auf Partys, sahen ihn Pogo tanzen, Mädchen anbaggern und hinter dem Haus in die Büsche kotzen. Als die Clique von der Schule abging, ließen sie Wolf zurück wie einen Hund, der dem Rudel noch nicht gewachsen war. Die zwei Jahre bis zu seinem eigenen Abitur waren eine Qual für ihn. Er hatte kein Interesse an Gleichaltrigen, hörte andere Musik,sprach eine andere Sprache. Für eine Weile wurde er bitter, stahl von seinem Vater Geld und versoff die Abende, zettelte Schlägereien an und ließ sich das Herz von einem Mädchen brechen, das Frauke sehr ähnlich sah. In dieser Zeit breitete sich die Melancholie wie ein schleichende Infektion in Wolf aus.
    Er bestand mit Mühe das Abitur und ging auf Reisen. Er sah sich Skandinavien an, verbrachte einen Monat in einer verfallenen Hütte hoch im Norden von Norwegen und sah sechs Wochen lang keinen Menschen. Danach setzte er mit einem Frachtschiff über nach Kanada und erledigte dort kleine Jobs, fällte Bäume und räumte Schnee aus Einfahrten. Im Sommer schlief er in den Wäldern und hielt sich fern von der Zivilisation. Alles, was er hatte, befand sich in seinem Rucksack.
    Nach sechs Jahren kehrte Wolf mit dem Entschluß nach Berlin zurück, Schriftsteller zu werden. Es gab niemanden, der ihn am Tag seiner Ankunft vom Flughafen abholte, weil niemand wußte, daß er wieder da war. Ein halbes Jahr ging das gut, dann begegnete ihm eines Tages zufällig sein Bruder auf der Straße.
    – Und ich wundere mich die ganze Zeit, warum du in Toronto nicht ans Telefon gehst, sagte Kris zur Begrüßung.
    Sie sahen sich an, sie kamen sich nicht näher, irgendwas fehlte, irgendwas hatte die Brüder zu Fremden gemacht. Wolf war nicht mehr der kleine Wolf, ein fremder Mann stand vor Kris. Es ist immer schwierig, wenn das Umfeld sich nicht im selben Tempo verändert wie man selber. Wolf war bulliger geworden, die Haare gingen ihm bis über die Schultern, seine Haltung war abwehrend. Und Kris war Kris.
    – Was tust du hier?
    – Leben.
    Mehr kam nicht von Wolf. Er hätte gerne einen Spruch hinterhergeschoben, er hätte den Moment gerne weggelacht, aber er war in eine Starre verfallen.
    – Na, dann leb mal schön weiter, sagte Kris schließlich und ließ ihn stehen.
    Kris konnte das. Kris konnte einen Strich ziehen und mit seinem Leben weitermachen, als wäre nichts gewesen. Wolf fiel das sehr schwer.
    Die Brüder blieben einander weiterhin fremd, und wahrscheinlich hätte sich daran auch nichts geändert, wenn Erins Tod nicht im selben Jahr Wolfs Welt auf den Kopf gestellt hätte.
     
    Wolf umarmt Frauke. Der Duft von Vetiver steigt in seine Nase. Erdig, roh, warm. Er spürt ihren Atem an seinem Hals und fragt sich, wie er auch nur eine Sekunde an Wegrennen hatte denken können.
    – Was machst du hier?
    – Schau mal nach links, sagt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher