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Sonnensturm

Sonnensturm

Titel: Sonnensturm
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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nun den Helm ab und schüttelte den
aristokratischen Kopf, um das dichte Haar zu lockern. Das war das
Gesicht, an das Michail sich erinnerte, das Gesicht, das er
damals aus irgendeinem gesellschaftlichen Anlass in Clavius oder
Armstrong gesehen hatte: ein Gesicht, das gerade erst die
härteren Züge eines Manns angenommen hatte, ohne dass
es die symmetrischen und feinen Züge eines Jungen schon
verloren hätte – obwohl aus den Augen ein gewisses
Ungestüm sprach. Ein Gesicht, zu dem er sich hingezogen
gefühlt hatte wie eine Motte zum Licht.
    Als Eugene sich aus seinem Raumanzug schälte, kam
unwillkürlich eine alte Erinnerung in ihm auf.
»Eugene, kennen Sie Barbarella?«
    Eugene runzelte die Stirn. »Ist sie in
Clavius?«
    »Nein, nein. Ich meine einen alten Science-Fiction-Film.
Ich habe ein Faible für Filme vor Beginn des Raumzeitalters.
Eine junge Schauspielerin namens Jane Fonda…« Eugene
hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon er überhaupt
sprach. »Macht auch nichts.«
    Michail ging zur kleinen Duschkabine unter der Kuppel,
entledigte sich der letzten Kleidungsstücke und stellte sich
unter den Brausekopf. Das Wasser quoll langsam in großen
schimmernden Tropfen hervor, die in der geringen Schwerkraft mit
magischer Langsamkeit zu Boden fielen, wo das Wasser bis zum
letzten wertvollen Molekül von Pumpen abgesaugt wurde.
Michail hielt das Gesicht in den Wasserstrahl und versuchte sich
›abzukühlen‹.
    »Ich habe Kaffee gekocht, Michail«, sagte Thales
sanft.
    »Thales, das war genau das Richtige.«
    »Es ist alles unter Kontrolle.«
    »Danke…« Irgendwie hatte es wirklich den
Anschein, als ob Thales Michails Stimmung zu spüren
vermochte.
    Thales war eigentlich ein Ableger von Aristoteles, einer
Intelligenz, die aus hundert Milliarden irdischer Computer aller
Größen und den Netzwerken hervorgegangen war, mit
denen sie verbunden waren. Als entfernter Nachfahre der
Suchmaschinen des ausgehenden 20. Jahrhunderts war Aristoteles zu
einem großen elektronischen Bewusstsein geworden, dessen
Gedanken wie Blitze über das verkabelte Antlitz der Erde
zuckten; seit Jahren war er ein ständiger Begleiter der
Menschheit.
    Als die Menschen von der Basis Clavius aus die permanente
Kolonisation des Mondes betrieben hatten, war es eigentlich
unvorstellbar gewesen, dass sie Aristoteles nicht mitnahmen. Das
Licht braucht mehr als eine Sekunde, um die Strecke von der Erde
zum Mond zu bewältigen – und in einer Umgebung, wo
selbst der kleinste Fehler den Tod bedeutet, war eine solche
Verzögerung einfach zu lang. Also hatte man Thales
erschaffen, eine Mond-Kopie von Aristoteles. Thales wurde
regelmäßig aus Aristoteles’ großen
Speichern aktualisiert – doch er war zwangsläufig
einfacher als sein Elter, denn das über den Mond gespannte
elektronische Nervensystem war noch immer rudimentär
verglichen mit dem irdischen.
    Einfach oder nicht, Thales machte seine Arbeit gut. Er war
immerhin intelligent genug, um den Namen zu rechtfertigen, den
man ihm gegeben hatte: Thales von Milet, ein Grieche aus dem 6.
Jahrhundert vor Christus, hatte als erster Mensch erkannt, dass
der Mond nicht durch eigenes Licht leuchtete, sondern durch den
Widerschein der Sonne – und er soll auch als Erster eine
Sonnenfinsternis vorhergesagt haben.
    Thales war für jeden Menschen auf dem Mond jederzeit da.
Und Michail, der trotz seiner stoischen Entschlossenheit des
Öfteren einsam war, hatte dann von Thales gemessener,
leidenschaftsloser Stimme Zuspruch erfahren.
    Und in diesem Moment, wo er wehmütig an Eugene dachte,
hatte er das Gefühl, dass er Trost brauchte.
    Er wusste, dass Eugene in Ziolkowski stationiert war. Der
riesige Krater auf der Rückseite des Mondes beherbergte eine
ausgedehnte Untergrundanlage. Vergraben im stillen, kalten Mond,
sicher vor Erschütterungen, vom Funkchaos der Erde und von
jeder Strahlung außer der minimalen eigenen Strahlung des
Mondgesteins abgeschirmt war es ein idealer Ort für die Jagd
auf Neutrinos. Diese geisterhaften Teilchen huschten durch feste
Materie, als ob sie überhaupt nicht existent wäre, und
lieferten dadurch einmalige Daten über ansonsten
unzugängliche Orte wie den Mittelpunkt der Sonne.
    Trotzdem mutete es seltsam an, den weiten Weg zum Mond
zurückzulegen und sich dann im Regolith einzugraben, um der
Wissenschaft zu frönen, sagte Michail sich. Dabei gab es
hier doch so tolle Arbeitsplätze – zum Beispiel
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