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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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wirkliche Mutter, und vielleicht musste sie mich loswerden, nachdem Magda fort war, denn sie konnte ja schließlich nicht zu Hause bleiben und Zöpfe flechten, während auf ihrer Station Kinder mit Verbrennungen dritten Grades und mit Meningitis warteten.
    Nein, das ergab keinen Sinn. Die Zöpfe waren ja weg, und deswegen gab es keinen Grund mehr, mich loszuwerden, sondern mein Leben konnte verschont bleiben.
    Trotzdem fragte ich vorsichtshalber: Muss ich sterben?
    Nur ein bisschen ausruhen, meine Liebe. Morgen ist ein neuer Tag.
    Fürchterliche Schläfrigkeit überfiel mich, und diese Schwere im Kopf, wie bei ganz schlimmen Erkältungen. Ragnhild saß immer noch bei mir. Das konnte kaum etwas Gutes bedeuten und hatte wohl eher mit einem Ausdruck aus den Büchern zu tun:
bis zum bitteren Ende
. Vielleicht war diese Spritze nicht direkt tödlich, sondern sollte mich einschläfern, wie man es bei schwerkranken und alten Tieren macht, die so narkotisiert werden, dass sie nicht wieder aufwachen.
    Als der neue Tag kam, den Ragnhild angekündigt hatte, kuschelte sich Mummi in meinem Bett an mich und tätschelte mir die bepflasterte Backe. Ich war immer noch angezogen, aber jemand hatte mir die Schuhe ausgezogen.
    Ich fand es sehr bedenklich, wieder aufgewacht zu sein, falls das nicht die Absicht gewesen sein sollte, und wegen dieses möglichen Kunstfehlers fing ich an zu schluchzen. Zu Mummi sagte ich, es sei keineswegs sicher, dass ich nach der Spritze hätte wieder aufwachen sollen. Mummi wollte davon nichts wissen und sagte, das sei Blödsinn (
Blödsinn
gehörte zu seinen Lieblingswörtern), ich hätte eine Beruhigungsspritze bekommen, und das sei etwas ganz anderes.
    In den nächsten Tagen vermied ich es tunlichst, Ragnhild in die Quere zu kommen, für den Fall, dass das Einschläfern tatsächlich misslungen war. Wenn ich ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkte, bestand erhöhte Gefahr, dass sie einen weiteren Versuch unternehmen würde. Andererseits war das aber eigentlich nicht notwendig, ich machte ihr wohl kaum viel Arbeit, denn die Zöpfe waren weg.
    Harald hingegen überraschte mich an dem Tag, als ich erwachte, indem er viel zu früh von der Arbeit kam. Ich putzte im Grünen Salon Staub, denn alle Wochentage waren vergangen, seit Magda weg war, und es war wieder Grüner-Salon-Tag.
    Du bist ein braves Mädchen, sagte Harald, aber damit brauchst du dich nicht abzugeben. Er nahm mir das Staubtuch aus der Hand und legte es auf den Couchtisch.
    Er setzte sich aufs Sofa, ohne den Mantel auszuziehen, und schaute mich an. Mir kam es fast so vor, als sei er so traurig wie in einem Buch, als befände sich da etwas in dem einen Augenwinkel, das eine Träne werden wollte. Das war ja vielleicht auch nicht verwunderlich, der arme Mann hatte ein Kind, das einen Friseur auf der Njálsgata gebissen und sich auf der Straße wie ein wildes Biest aufgeführt hatte.
    Harald schwieg allzu lange auf dem Sofa. Endlich fragte er: Wie geht es dir, meine Liebe?
    Ich bin heute Morgen aufgewacht, sagte ich, damit er Einwändemachen konnte, falls es nicht beabsichtigt war, dass ich wieder erwachte.
    Das war gut, sagte Harald lächelnd.
    Ganz bestimmt?
    Wie du fragen kannst, sagte er.
    Dann reichte er mir fünfzig Kronen aus seiner Brieftasche und sagte, ich solle mir etwas Schönes dafür kaufen.
    (Ich hatte keine Ahnung, was ich mit Geld anfangen sollte. Die fünfzig Kronen verschwanden auch bis irgendwann nach meinem achten Geburtstag in der Versenkung. Da war Mummi aber schon so groß, dass er wusste, was man mit Geld anfangen konnte, und wir hauten es unverzüglich auf den Kopf.)
    Am selben Tag, an dem ich aufwachte, tauchte Guðmann plötzlich in der Sjafnargata auf. Darauf war ich nicht gefasst und schaffte es nicht, auf den Dachboden zu flüchten, um mich zu verstecken. Harald bat mich, in die Küche zu kommen. Ich schämte mich in Grund und Boden und starrte unverwandt auf einen Fleck, der mir am Küchentag entgangen war. Wie konnte man einem Mann in die Augen sehen, der ein Pflaster auf dem Handrücken hatte, weil ein Biest seine Zähne da hineingeschlagen hatte. Es konnte wohl auch kaum als mildernder Umstand angerechnet werden, dass dem Biest oben ein Schneidezahn fehlte; ein braves Mädchen würde so etwas nie tun, auch wenn es keinen einzigen Schneidezahn hätte.
    Ich muss da noch ein bisschen nachschneiden, sagte der Friseur und öffnete seine Tasche.
    Zuerst holte er eine braune Papiertüte heraus. Die Zopfenden mit den
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