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Sommerkuesse

Titel: Sommerkuesse
Autoren: Sara Ryan
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– seinen Sturz. Platsch.
    Das Mädchen links neben dem Jungen hat die schönsten Haare, die ich je gesehen habe. Blond und sehr lang, üppig, schwer und ganz natürlich aussehend. Die Blondinen, die ich sonst so kenne, machen ständig an ihren Haaren rum. Stylen sie mit Lockenstäben, Spray und Gel. Obwohl – das stimmt nicht ganz. Es gibt ja auch noch die Hippiemädchen mit Mittelscheitel und geflochtenen Zöpfen, aber die sind in der Minderheit. Dieses Mädchen sieht ganz anders aus. Eigentlich komisch, dass sie sich das Haar bei dieser Hitze nicht hochsteckt – es hängt ihr offen den Rücken hinab. Die Haare sind zwar blond, aber nicht platinblond und auch nicht so gelbblond, wie man es häufig sieht. Honigblond käme der Sache schon näher. Aber es müssten lauter verschiedenfarbige Honigsorten sein, Klee- und Wiesenhonig. Und vielleicht sind auch ein paar Gewürze beigemischt, Ingwer und Cumin. Wobei es eigentlich sinnlos ist, darüber nachzudenken. Ich habe sowieso nur einen Bleistift dabei und bezweifle sehr, dass ich ihre Haarfarbe wiedergeben könnte, selbst mit der größten Buntstiftsammlung der Welt. Ihre Augen würden mich genauso
vor Probleme stellen. Die sind so was von grün, man hat das Gefühl, im Dunkeln würden sie leuchten.
    Plötzlich merke ich, dass ich noch nicht einmal angefangen habe, sie zu zeichnen. Ich werfe grob ihre Kopfform aufs Papier und beginne dann mit den Haaren. Die Nase wird bestimmt schwierig. Nasen verderbe ich grundsätzlich. Vielleicht sollte ich erst mal den Mund zeichnen. Sie hat schmale Lippen.
    Eine Weile vergesse ich, wo ich bin. Ich versuche, es wie Dad zu machen und das Mädchen so zu sehen, wie er die Dinge betrachtet, die er zeichnet. Er zerlegt das Motiv in seine Grundformen, sagt er immer: Also sieht er keinen Kopf, sondern ein Oval.
    Ich aber sehe bloß das Mädchen.
    Sie hat einen Zeigefinger im Mund. Ich bin mir nicht sicher, aber es sieht aus, als würde sie mit den Zähnen die feine Haut rings um die Nägel abziehen.
    Ich hätte nicht gedacht, dass es noch jemanden gibt, der das macht.
    Ich zeichne jetzt zwar viel zu hastig und ungenau, aber ich will unbedingt festhalten, dass es anscheinend noch einen Menschen gibt, der sich selbst auf diese unauffällige, diskrete Weise misshandelt. Sie nimmt den Finger aus dem Mund, bevor ich ihn verewigen konnte, aber ich sehe einen kleinen Blutstropfen. Die schöne Langhaarige hat genauso abgeknabberte Nagelhäute wie ich.
    Kaum hab ich diesen Gedanken im Kopf, sieht sie auch schon mit ihren phosphorgrünen Leuchtaugen zu mir rüber. Ich merke, wie ich rot anlaufe. Sie lächelt. Ich zögere einen Moment und lächle dann zurück.

    »Zu den wertvollsten Erfahrungen, die ihr von diesem Ferienkurs mit nach Hause nehmt, gehören sicherlich die Freundschaften mit anderen Gleichaltrigen, die ihr hier schließen werdet. Dazu bekommt ihr auch reichlich Gelegenheit. Trotzdem möchte ich euch ans Herz legen, eure Zeit hier nicht mit … ähem … romantischen Techtelmechteln zu vergeuden. Aber ihr seid ja alle vernünftig, und ich vertraue darauf, dass ihr die Sachlage richtig einschätzt.« Der d.k.r.M. räuspert sich mehrmals und nippt an seinem Wasserglas.
    »Letztes Jahr ist wohl eine geschwängert worden«, murmelt die Rothaarige.
    Der d.k.r.M. zählt noch ein paar Dinge auf, die wir uns – vernünftig wie wir sind – sicherlich ebenfalls nicht werden zuschulden kommen lassen: Alkohol- und Drogenkonsum, Diebstahl, Betrug bei Prüfungsarbeiten und Beschädigung von Universitätseigentum. Dann fährt er fort: »Falls ihr Probleme habt und alleine nicht mehr weiterwisst, wendet euch bitte an die Tutoren – also die älteren Semester, die wir euch als Betreuer zugeteilt haben. Sie sind psychologisch geschult und dazu da, euch zu helfen.«
    Mutig flüstere ich: »Wahrscheinlich erst geschwängert und danach hat sie sich umgebracht.« Die Rothaarige unterdrückt ein Lachen.
    Als der dicke, kahle rosarote Mann endlich fertig ist, klatschen alle befreit los. Der Beifall weckt auch den sabbernden Jungen. Die Rothaarige pikst mich mit dem Finger in den Arm. »Hey, du hast doch die ganze Zeit was gezeichnet. Lass mal sehen.«
    Ich erstarre. Sie hätte mich genauso gut bitten können, mich mal eben nackt auszuziehen. Aber ich weiß nicht, wie
ich höflich Nein sagen soll, deshalb halte ich ihr das Ringbuch hin. Und sofort bestätigen sich meine schlimmsten Befürchtungen: Sie lacht laut los.
    »O Mann, mit seiner Stimme hast du
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