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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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dafür nannten alle die DDR abfällig Osten, und das hatte bei uns kaum jemand getan. Inzwischen hatte ich begriffen, dass die beiden Himmelsrichtungen in diesem Zusammenhang als Synonyme für Gut und Schlecht standen.
    Ich konzentrierte mich auf die schwarze Fassung von Frau Perpels Brille und dachte darüber nach, wie ich dazu beitragen konnte, meine Position zu verbessern. Ich wollte die achte Klasse nicht wiederholen. Ich war ein guter Schüler. Physik, Mathe, Deutsch, Staatsbürgerkunde, Chemie, Erdkunde, sogar Kunst und erst recht Musik – in all diesen Fächern hatte ich an der Polytechnischen Oberschule in Dresden zu den Besten gehört. Aber hier ging es um Englisch, das die meisten Schüler schon seit der dritten Klasse lernten, und als zweite Fremdsprache um Französisch. Und außerdem, das hatte sogar ich verstanden, ging es darum, dass diese Frau keine Ostler mochte – und wir waren welche.
    »
Liebe
Frau Perpel«, sagte Mama, und die Rektorin verzog das Gesicht. »Falk ist ein hervorragender Schüler, er lernt schnell und ist sehr diszipliniert.«
    Frau Perpel murmelte etwas, das in meinen Ohren nach »FDJ« klang.
    »Er wird sicher bei den neuen Fremdsprachen Schwierigkeiten haben, aber …«
    »Und was ist mit Geschichte?«, unterbrach die Dame im skurrilen Anzug.
    Mama setzte sich auf und schob die Schultern nach hinten.
    »Was soll mit Geschichte sein?«, fragte sie zurück, und erstmals seit unserer Ankunft schien die lähmende Traurigkeit, die sie umgab, vollständig einem anderen Gefühl zu weichen.
    »Liebe Frau Lutter, wir beide wissen, dass in der sogenannten DDR eine Form von Geschichte unterrichtet wird, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat.«
    »Ja und?«, gab Mama zurück. Es war vielleicht nicht für jedermann zu erkennen, aber ich bemerkte, dass sie langsam sehr wütend wurde, was mich in gewisser Weise sogar freute. Vermutlich hätte sie jetzt lieber einen Streit angefangen, als nur so knapp zu widersprechen. Streite mit Mama endeten unschön. Sie gewann immer.
    »Die Lernkurve ist zu steil für einen Vierzehnjährigen.« Frau Perpel öffnete die verschränkten Hände und platzierte die Handflächen auf der grünen Linoleummatte, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Ich bin Pädagogin. Ich weiß, wovon ich rede. Sie tun Ihrem Sohn wirklich keinen Gefallen, wenn Sie gegen meine Empfehlung handeln. Ich müsste Ihnen in diesem Fall dazu raten, eine andere Schule zu wählen. Vielleicht sogar eine andere Schulform.«
    Mama japste. Sie sah mich kurz an, ziemlich fassungslos, und sank dann im Stuhl zusammen. Plötzlich waren die Wellen der Melancholie, die sie seit drei Wochen verströmte, wieder spürbar.
    »Aber wenn er beweist, dass er es kann«, sagte sie leise. »Geben Sie ihm dann eine Chance?«
    Frau Perpel grinste wieder, und dieses Mal war es nicht komisch. Dann nickte sie sehr langsam. »Wenn
Falk
« – sie sprach meinen Namen auf eine Art aus, die mich an meinen Staatsbürgerkundelehrer, Herrn Kosczyk, denken ließ, wenn er »Klassenfeind« sagte – »meine Erwartungen erfüllt, werde ich sehen, was ich für ihn tun kann.« Sie pausierte kurz undfixierte mich dabei. »Aber meine Erwartungen sind sehr, sehr hoch.«
    Also kam ich in die achte Klasse.
     
    Ich war vierzehn und drei Wochen zuvor über Ungarn aus der DDR geflohen, gegen meinen Willen – es hatte mich einfach niemand gefragt. Ich hatte kurze, weißblonde Haare, hellblaue Augen, war eins dreiundfünfzig groß und wog mit präadipösen siebzig Kilo gut und gern zehn bis zwölf zu viel. Ich hatte gerade den allerschönsten und zugleich tragischsten Urlaub meines Lebens hinter mir, und außerdem hatte ich meinen Vater und meine Schwester verloren. Ich lebte bei Tante Gisela, die eigentlich nicht wirklich meine Tante war, sondern die Cousine meiner Mutter, aber ich sollte sie Tante nennen. Und Gerhard, ihren Mann, Onkel. Ich befand mich in Westberlin, im kapitalistischen Westen, und schlief im Doppelbett neben Mama in einem fast fünf Meter hohen, stuckverzierten Raum, von dessen Fenstern aus man auf eine Straße hinunterschauen konnte, auf der selbst morgens um vier mehr Verkehr war als in Dresden um kurz nach sieben, wenn die Werktätigen in ihren Trabis und Wartburgs in die Kombinate fuhren, um Pläne zu erfüllen.
    In diesen ersten Wochen lag ich nachts lange wach, meistens bis in den frühen Morgen, lauschte auf den Atem und das gelegentliche, tieftraurige Seufzen meiner Mutter und die Fahrzeuge draußen, die
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