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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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machen ließ, ein zusammengefaltetes, gelbes Schlauchboot. Sonja präsentierte stolz ihren schwarz-rot-gestreiften Badeanzug, und ich musste zwinkern, weil meine ältere Schwester wirklich wie eine sehr schöne junge Frau aussah. Dass der Badeanzug dasselbe, ein bisschen faulige Gummiaroma verströmte wie meine Turnschuhe, verschwieg ich lieber.
    Jürgen und seine Frau blieben bis zu unserer Abfahrt kurz nach Mitternacht. Ich saß schon auf der Rückbank, müde, aufgeregt und voller Erwartung, aber die Abschiedszeremonie zog sich endlos hin. Sonja hatte ihren Kopf bereits gegen die Seitenscheibe gelehnt und hielt die Augen geschlossen. Sie verfügte über die wunderbare Fähigkeit, im Auto trotz der Rumpelei und des Lärms schlafen zu können, als wäre der 601 ein Himmelbett. Nicht nur dafür bewunderte ich sie – tatsächlich war meine Schwester der einzige Mensch, für den ich neben dem liebevollen Respekt, den ich auch für meine Eltern empfand, etwas wie ehrliche Hochachtung verspürte. Ich mochte sie nicht einfach nur, weil sie schlau, freundlich,zuvorkommend, ideenreich und niemals herablassend war. Ich liebte und bewunderte sie. Sonja behandelte mich wie einen guten Freund, beantwortete stoisch meine Fragen, zeigte und erklärte mir Dinge, und meistens war sie es, die fragte, ob ich sie begleiten wollte, wenn sie einen Ausflug machte, jemanden besuchte oder auch nur einkaufen ging. Sie neckte mich freundlich, nannte mich »mein kleiner Dicker«, streichelte mir aber gleichzeitig durch die hellblonden Haare und herzte mich dann.
    Wieder und wieder umarmten sich die vier, und ich musste zwei Mal hinsehen, um meine überraschende Feststellung, dass sie weinten, bestätigt zu finden. Sie weinten? Warum nur? Wir wären nur zwei Wochen weg, und wir würden ihren Anhänger, den Grill und das Besteck sicher unbeschadet zurückbringen, denn mein Vater war ein gewissenhafter Mann, der sorgfältig mit Dingen umging. Ich verstand nicht, warum sie so viel Aufhebens um eine Reise machten, die uns zwar weit in den Süden führen, von der wir aber ganz sicher auch zurückkehren würden. Ich wandte mich ab, sah zur anderen Seite, zum Grundstück von Herrn Leder, und nahm eine Bewegung wahr. Da mein Kinderzimmerfenster auf diese Seite hinausging, wusste ich, dass er selten nach neun Uhr abends das Licht löschte und schlafen ging, und jetzt war es bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht. Ich konzentrierte mich auf die niedrige Hecke zwischen den Grundstücken – ja, da stand ganz deutlich jemand im Mondschatten des längst verblühten Flieders.
    Endlich stiegen meine Eltern ein, schniefend, ihre Gesichter glänzten im Schein der wenig leuchtstarken Lampe über unserer Haustür, deren gelbliches Licht ins Auto fiel.
    »Papa«, sagte ich. »Ich glaube, mit Herrn Leder ist was. Der steht da noch in seinem Garten, sonst schläft er immer um diese Zeit.«
    Meine Eltern sahen sich kurz an, dann drehte sich Mama zu mir, aber ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, weil das Licht in ihrem Rücken war.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte sie leise, drehte sich dann zurück und beugte sich vor, um zur Hecke zu blicken. In diesem Moment startete mein Vater den Zweitakter, es gab einen ungewohnten Ruck, weil wir nicht nur überladen waren, sondern auch noch einen Anhänger zogen, und dann winkten die drei Lutters, die nicht schliefen, so lange, wie Jürgen und seine Frau im orangegelben Schein der matten Straßenlaterne zu sehen waren. Kurz darauf schlief auch ich ein, mit Gedanken daran, wie ich im gelben Schlauchboot auf dem riesigen Plattensee herumkreuzen würde.
     
    Als ich wieder erwachte, weil der Wagen hielt, war es schon nicht mehr ganz so dunkel. Wenn ich nach links aus dem Fenster sah, konnte ich über den Hügeln, die uns offenbar umgaben und die dunkle Schattenrisse zeichneten, einen Anflug von Dämmerung ausmachen. Vor uns warteten mehrere Reihen Fahrzeuge, von denen die meisten unserem glichen und die allesamt bis über die Dächer mit Gepäck vollgestopft waren, am Grenzübergang ins Bruderland ČSSR, die Tschechoslowakische Sozialistische Republik. Selbst bei geschlossenen Fenstern verdrängte der Abgasgestank der vielen Autos alle anderen Gerüche, aber ich stellte mir vor, dass es hier nach Wiesen, spätblühenden Blumen, frischem Bachwasser und Schweinebraten mit Sauerkraut und Knödeln roch.
    Es dauerte noch fast zwei Stunden, inzwischen war es hell geworden, bis wir an den Kopf der stinkenden Warteschlange vorgerückt
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