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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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waren, aber Papa sagte keinen Ton, beklagte sich nicht. Ein Grenzpolizist der Deutschen Demokratischen Republik nahm aus Papas Hand, der dabei einen ungewohnt eingeschüchterten Gesichtsausdruck an den Tag legte, die Papiereentgegen und verschwand dann in einem Kabuff, aus dem milchiges Licht schien. Zwanzig schweigsame Minuten vergingen, dann kehrte der Grepo in Begleitung zweier Genossen zurück. Er beugte sich herunter und sagte leise, aber deutlich: »Das Reisevisum für Sonja Lutter ist ungültig.« Mit einer herrischen Geste gab er Mama und Papa zu verstehen, unser Auto zu verlassen, was sie auch sofort taten. Aus diesem Grund sah ich nicht, wie sie auf die seltsame Mitteilung reagierten.
    »Was bedeutet das?«, fragte ich in der Bewegung zu meiner Schwester, die längst wieder aufgewacht war. Als ich sie ansah, erschrak ich. Sie war blass geworden und zitterte. Ich bekam panische Angst.
    Weitere zwei Stunden später setzten wir die Reise fort, verließen das Territorium der DDR und reihten uns abermals ein, um von Grenzsoldaten der ČSSRkontrolliert zu werden. Sonja war nicht mehr bei uns. Ich verdrehte den Kopf, um einen Blick auf sie zu erhaschen, hatte sie aber nicht mehr gesehen, seit sie von einem der DDR-Grenzpolizisten weggeführt worden war. Im Morgenlicht waren die wartenden Autos und die Grenzanlagen gut zu erkennen, aber meine geliebte Schwester sah ich nicht. Es sollte zehn Jahre dauern, bis das wieder möglich wurde.
    Meine Eltern weinten, bemühten sich allerdings offensichtlich, ihre Traurigkeit unter Kontrolle zu bringen.
    »Wir können doch Urlaub bei Jürgen und Marianne machen«, schlug ich hilflos vor. »Wir müssen nicht nach Ungarn fahren.«
    Mama drehte sich nicht um. »Sonja wird die Ferien bei Tante Cordi verbringen«, sagte sie leise. Und dann, noch leiser: »Da ist auch ein See.«
    »Aber warum …«, begann ich und spürte, dass sich auch bei mir jetzt Tränen ankündigten. Zum ersten Mal hatte ich eineAhnung davon, was hier passierte, was wir zu tun im Begriff waren. Ich konnte es nicht greifen, verstand es noch nicht in aller Konsequenz, aber ich war vierzehn. Marios Vater war im vergangenen Sommer verschwunden, kurz darauf waren Mario und seine Mutter umgezogen, seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Die Schultes, die in unserer Straße in einem Haus wie dem unseren gewohnt hatten, waren keineswegs umgezogen – das hätte ich bemerkt –, sondern einfach von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt, obwohl der Wartburg von Herrn Schulte und Christianes rotes Fahrrad noch vor der Tür standen, sogar einige Wäschestücke hingen wochenlang auf der Leine im Garten, aber die Schultes selbst waren weg. Das Haus stand immer noch leer.
    Republikflucht
? Waren wir wirklich dabei, Republikflucht zu begehen, unser Heimatland zu verlassen? Ich schluckte schwer, spürte einen Kloß im Hals und Angst, weit größere Angst als jene, von der man weinen muss. Meine Hände zitterten, mein Haaransatz spannte. Ich legte die Hände auf die Rücklehnen der beiden Vordersitze, zog mich nach vorne und sah die versteinerten Gesichter meiner Eltern.
    »Flüchten wir?«, fragte ich so leise wie nur irgend möglich. Beide zuckten zusammen, aber es war Mama, die mir ihr Gesicht zuwandte, eine Maske der endlosen Fassungslosigkeit, und dann schaffte sie es doch tatsächlich, eine Art Lächeln zustande zu bringen.
    »Nein, Falki. So ein Unsinn. Natürlich flüchten wir nicht. Warum denn auch.« Dabei legte sie ihre Hand auf meine, aber dass auch ihre zitterte, das konnte sie nicht verbergen. Trotzdem beruhigte ich mich. Mama hatte mich noch niemals, absolut niemals angelogen, dessen war ich mir sicher. Es musste eine andere Erklärung geben. Ich ließ mich wieder zurückfallen, auf die schmale Sitzbank, die ich jetzt für mich alleinehatte. Es war kurz nach acht am Morgen. Ich legte mich hin, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum, aber bevor ich einschlief, noch zwischen Wegdämmern und Träumen, meinte ich, meine Mutter flüstern zu hören: »Großer Gott, was werden sie mit ihr tun?«

Balaton (1980)
     
    Ich erwachte und spürte als Erstes, dass es wahnsinnig warm geworden war in unserem Auto. Die wenig erfrischende Luft, die durch die spaltbreit geöffneten Fenster auf beiden Seiten hereindrang, erinnerte mich an die Felder, die unweit der Plattenbausiedlung begannen, in der Tante Cordi wohnte. Der Gedanke daran versetzte mir einen Stich, denn er führte unweigerlich
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