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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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Ruck. Es knallte. Anschließend saß ich minutenlang auf dem Sofa, starrte auf die Vergangenheit im Fernsehen und auf die in meinem Gedächtnis, die sich urplötzlich aus Sümpfen erhob, obwohl ich eigentlich der Meinung gewesen war, sie wäre darin erstickt, ertrunken, jedenfalls irgendwie gestorben.
    Wir hielten. Die Strecke war nicht gerade kurz gewesen, vom Flughafen Tegel bis hierher, in die Nähe von Potsdam. Der Taxifahrer nannte eine solide Summe, drehte sich zu mir.
    Während ich nach passenden Geldscheinen suchte, sagte er: »Sie hören das wahrscheinlich oft. Aber … sind Sie nicht … Sie sind doch …«
    Ich nickte und reichte ihm den Schein.

E INS
     

Klassenfeind (1980)
     
    »Es tut mir leid«, sagte Frau Perpel, wobei ihr Blick, nein, ihr gesamter Kopf mehrfach von mir zu Mama und wieder zurück huschte. Ihr Schädel ruckte wie bei einer Taube, die vom Picken aufsieht und nach Feinden Ausschau hält. Seltsamerweise schienen sich ihre Haare leicht verzögert zu bewegen. Die Stirn von Frau Perpel rutschte quasi unter den Haaren weg, und mit geringer Verspätung zog die graubraune, extrem gleichmäßige Perücke nach. Dass es sich tatsächlich um eine Perücke handelte, erfuhr ich später.
    Frau Perpel, Rektorin des Walter-Gropius-Gymnasiums in Berlin-Schöneberg, mochte fünfundfünfzig oder auch sechzig Jahre alt gewesen sein, jedenfalls ziemlich alt aus meiner Sicht. Sie trug einen Anzug mit Weste, braun, mit feinen, orangefarbenen Längsstreifen – etwas, das ich noch niemals und erst recht nicht an einem weiblichen Menschen gesehen hatte, und sie vervollständigte dieses skurrile Bild durch ein violettes Hemd und eine grasgrüne, merkwürdig kurze Krawatte mit einem aufgestickten Motiv, das leider niemals vollständig unter dem Revers hervorlugte. Etwas an ihr erinnerte mich an Karl-Eduard von Schnitzler, den Mann, der die Sendung »Der schwarze Kanal« im »Fernsehen der DDR« moderierte. Auch sie trug eine dicke, schwarz gerahmte Brille, deren konkave Gläser so stark waren, dass sie ihre Augen um die Hälfte verkleinerten. Ihre Stimme war dumpf und kratzig, was zum starken, alles andere überdeckenden Rauchgeruch im Rektorenzimmer passte. Auf ihrem Schreibtisch stand ein voller Aschenbecher aus gelbem Glas, in dem eine »Marlboro« qualmte. Die Schachtel lag daneben – sie sah so viel perfekter,edler aus als die gleichsam holzigen
Cabinet -
und
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-Boxen, die ich kannte.
    Ich sammelte diese Eindrücke – wie alles, was mir begegnete – seit drei Wochen. Drei Wochen befand ich mich jetzt schon im Westen, dem Land, von dem ich so viel gehört hatte, aber über das ich kaum etwas wusste.
    »Aber Falk ist vierzehn. Er wird im Oktober fünfzehn. Sie können ihn doch nicht in die achte Klasse stecken«, protestierte Mama. »Er gehört in die neunte. Eigentlich sogar in die zehnte.«
    Frau Perpel ließ den Kopf wieder hin und her rucken und fixierte mich dann.
    »Sprichst du Englisch?«, fragte sie. Dabei erschien etwas wie ein Grinsen in ihrem Gesicht, und das sah so komisch aus, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Mama hatte mich instruiert, ernsthaft und intelligent sollte ich wirken, aber diese ältere Dame mit ihrem hinterherrutschenden Haar und dem merkwürdigen Kostüm stimmte mich irgendwie fröhlich. Dabei war mir durchaus bewusst, dass sie mein Gegner war – aus Gründen, die ich bestenfalls ahnte.
    »Nein«, sagte ich. »Nur sehr wenig. Aber ich kann gut Russisch.« Tatsächlich konnte ich so gut Russisch, dass ich Kolja, meinen rumänischen Brieffreund, mit dem ich mir in dieser Sprache geschrieben hatte, am Ende völlig überfordert hatte. Aber das war vorbei, für immer.
    Mama stöhnte kaum hörbar.
    »Hier spricht niemand Russisch«, knarzte die Rektorin. Ihre Miniaugen funkelten hinter den Lupengläsern.
    »Ich weiß«, sagte ich leise und blickte kurz zu Boden, weil mir das passend schien.
    Frau Perpel beugte sich vor und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. Ihre Fingernägel waren violett lackiert, und auf ihren Handrücken konnte ich hellbraune Flecken erkennen.
    »Sie sind nicht die ersten Menschen aus dem Osten, mit denen ich zu tun habe. Das WGG genießt einen guten Ruf, wir gehören zu den besten Gymnasien in Berlin.«
    Westberlin,
korrigierte ich im Geist. Und dann korrigierte ich mich gleich wieder. Hier hieß Westberlin schlicht Berlin, und Berlin, Hauptstadt der DDR, hieß Ostberlin. Wir waren im Westen, aber kaum jemand nannte es Westen,
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