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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück
Autoren: Luanne Rice
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gewesen, nur ein einziges Mal, um zu sehen, wo ihr Mann gestorben war.
    »Da drüben«, sagte sie und deutete auf einen schmalen Weg.
    Dan bog ab, und sie holperten über eine Reihe von Schlaglöchern. Hier draußen herrschte Totenstille, der Weg war wie ausgestorben. Im Sommer kamen die Leute manchmal her, um zu picknicken oder zu angeln, und in sehr kalten Wintern die Kinder, um zu sehen, ob das Eis dick genug zum Schlittschuhlaufen war. Doch mitten im November war die Gegend menschenleer.
    Oder auch nicht.
    Vor ihnen, fast verschmolzen mit der Dunkelheit, stand ein weinroter Van. Die Nacht bot eine ausgezeichnete Tarnung, doch die Scheinwerfer von Dans Pick-up machten den Wagen aus, sobald sie um die Ecke bogen. Neben dem Van, wie von Scheinwerfern geblendete Rehe, standen zwei Menschen, die Gesichter weiß im grellen Licht.
    »Wo ist sie?«, brüllte Dan, noch bevor er den Motor abgestellt hatte. »Wo ist Eliza?«
    Bay nestelte am Türgriff, trotz besseren Wissens erschrocken, die Bolands in dem Gestrüpp aus Weißkiefern am Rande der kleinen Salzwasserbucht zu sehen, an dem Ort, wo sie bereits ihren Mann umgebracht hatten.
    »Eliza!«, schrie Bay.
    Alise und Mark rannten auf den Van zu; Alise sprang auf den Fahrersitz und ließ den Motor an, im gleichen Moment, als Dans Faust Marks Kiefer zerschmetterte.
    »Wo ist Eliza?«, brüllte Dan abermals und drosch wieder und wieder mit der Faust auf ihn ein. »Wo ist meine Tochter?« Der Van rumpelte los, die Schweinwerfer flammten auf, für den Bruchteil einer Sekunde ins Nirgendwo gerichtet, als sich Mark an die Beifahrertür klammerte, Dan abzuschütteln versuchte und mit voller Wucht aufs Gesicht fiel, weil Alise abrupt den Rückwärtsgang einlegte, den Wagen herumriss, auf die mit Schlaglöchern übersäte Straße, und davonbrauste, sie der Dunkelheit überlassend.
    Doch nicht, bevor Bay eine Sekunde lang – ein Geschenk des Himmels – Elizas Gesicht erspähte, kreideweiß wie ein Küstenvogel, mit wilden Augen, die den Himmel durchkämmten, die Engel bat, ihr zu Hilfe zu eilen, Augen, vom Licht der weißen Scheinwerfer des maronenfarbenen Van erfasst und von den roten Schlusslichtern, bevor sie in der dunklen, brackigen Bucht versanken.
    Bay rannte zum Wasser. Sie streifte noch im Laufen die Schuhe ab, ließ ihre Jacke zu Boden fallen. Sie überlegte keine Sekunde. Der erste Moment nach dem Sprung war der schlimmste – eisig kaltes Wasser auf den Zehen, dann auf ihrem Körper und zum Schluss in ihrem Mund. Ihre Kleider verwandelten sich unverzüglich in Ballast, behinderten sie, zogen sie auf den Grund der Bucht.
    Sie schluckte Wasser, drehte sich um die eigene Achse, dann schwamm sie gezielt in die Tiefe, mit den Händen ringsum tastend, weil ihre Augen hier unten nicht den geringsten Nutzen hatten; sie konnte sich nur noch an einem Licht orientieren, das von innen oder von hoch droben kam. Bays Herz, aber auch Charlies und Seans, leiteten sie, veranlassten sie, bis auf den Grund der Bucht zu tauchen, wo der Sund und der Nebenfluss des Gill River zusammentrafen, tiefer, tiefer und tiefer, während sie ihre Hände als Ersatz für ihre Augen benutzte, wie Hummer ihre Fühler.
    Sie hörte die Stille in ihren Ohren rauschen, eine gewaltige, tosende Stille, die Stille unter Wasser … sie hatte sich nie vorgestellt, wie es sein könnte, zu ertrinken, doch nun erlebte sie ihre letzten Atemzüge, im Meerwasser … nur wenige Sekunden, ein letztes verzweifeltes Einatmen, und dann war es geschehen, war alles vorbei. Sie würde ertrinken … und Eliza auch … in diesem Gewässer aus Salz- und Süßwasser, gemischt mit Seans Blut. Ihr Mann war hier verblutet; sein Wagen war geradewegs auf den Grund der Bucht gesunken, seine letzte Station auf dieser Erde. Die Mineralstoffe von Sean McCabes Blut hatten sich mit diesen Wassermolekülen verbunden.
    Er war tot und Charlie ebenfalls, aber Bay und Dan lebten, und nun waren sie beide im Wasser. Bay fühlte sich gestärkt bei dem Gedanken an Charlie und Sean, Eltern, die zu leben und zu lieben versucht hatten, so gut sie es vermochten, die vieles falsch gemacht hatten und deren Reise zu früh beendet worden war. Und Bay betrachtete dies hier als eine letzte Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen, zu retten, was sie beinahe zerstört hätten.
    Bays Finger berührten Holz, Treibholz, das auf den Grund der Bucht gesunken war, streiften Schilf, das in der Strömung wogte, aber Bay wusste: Es war kein Holz, kein Schilf. Mit
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