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Sommer in Lesmona

Sommer in Lesmona

Titel: Sommer in Lesmona
Autoren: Magdalene Marga; Pauli Berck
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    Blicken wir noch einmal zurück auf das
Milieu, das diese Briefe unbewußt bewahren und beschwören. Was besitzen wir an
Kunstwerken oder Selbstzeugnissen über die deutsche Bürgerkultur, aus der doch
fast alle unsere großen Geister stammen? Goethes «Dichtung und Wahrheit», die
Briefe des Humboldtkreises, Kügelgens Erinnerungen, Fontanes große Romane, die
Erinnerungsbücher von Rudolf Alexander Schröder, Thomas Manns «Buddenbrooks»
und für Bremen etwa noch die Gildemeister-Briefe sind die Hauptpfeiler dieser
überliefernden Darstellung, — und sie alle sind Kunstwerke und
Wahrheitsdokumente in einem. Nur Goethe aber und Thomas Mann schildern
unmittelbar die ausgeprägteste Form deutschen Bürgertums, die
reichsstädtisch-hanseatische. Neben diesen großen, vereinzelten Zeugnissen
behaupten unsere Mädchenbriefe in ihrer ahnungslosen, aber lebensvollen, ihr
Milieu in ganzer Fülle mit sich tragenden Naivität ihren bescheidenen Platz.
    Unter allen Städten der Hanse hat
Bremen sich die festeste und echteste Lebensform zu schaffen gewußt, die dort
noch weit stärker in das gegenwärtige Leben hineinwirkt als im erstorbenen
Lübeck Thomas Manns oder im großstädtisch überwucherten Hamburg. Fremde
Besucher Bremens bemerken davon freilich kaum etwas, denn die holländisch
sauberen, fast nur aus Einzelhäusern bestehenden Straßen, die zurückhaltend
einfachen Fassaden verraten wenig davon, welch ein reiches und verfeinertes
Dasein sich im Innern dieser anspruchsvollen, gemütlich-lässigen und
verhalten-stolzen Bürgerwelt abspielt oder doch gestern noch abspielte. Diese
Welt hat noch kaum Schilderer gefunden, aber das siebzehnjährige Mädchen von
1893, die echte Tochter des großen Handelshauses, ist voll von ihrem Geist,
ihrer Großzügigkeit und Beschränktheit, ihren Schwächen, Konventionen und
Schönheiten. So darf sie klein und kühn, «süß und frech», wie Hans sie nennt,
mit ihren Herzensbriefen neben die großen Dokumente der Vergangenheit treten,
das Ihre hinzugebend zu der so unvollständig geschriebenen Kulturgeschichte
deutschen Bürgertums.
    Aber was uns innerlich am tiefsten
berührt beim Lesen dieser Briefe, das ist bisher noch nicht gestreift worden.
Es wirkt ein Geheimnis in diesen Blättern, das den Freund der Dichtung nicht
losläßt und ihm unerklärlich zu sein scheint. Diese Briefe sind ein
Lebensdokument, aber zugleich sind sie noch viel mehr, sie sind Poesie! Wie ist
das möglich? Kunst und Natur sind zwei grundverschiedene Dinge, wir wissen es
und treten dafür ein überall, wo etwa Unverstand diesen strengen Unterschied
verwischen will. Ein Leben, eine Gestalt, eine Verkettung von Ereignissen so zu
schildern, daß ein Kunstwerk, ein allgültiges, lebenüberdauerndes Gebilde
entsteht, dazu bedarf es höchster Intuition und höchsten Kunstverstandes im
Nachziehen, Durchführen und Einsparen der Linien, die aus dem unübersehbaren
Material, welches selbst der einfachste Lebensausschnitt als Modell dem
Künstler liefert, entnommen werden müssen. Man erwäge, was in Goethes
«Wahlverwandtschaften», was in Tolstois «Krieg und Frieden» wirklich gesagt
wird über Ereignisse, Personen, Situationen, was verschwiegen wird und was
ungesagt mitschwingt im geschriebenen Wort — wie oft nur eine zarte Veränderung
des Tonfalls, der Belichtung oder Beschattung schwerwiegende Wendungen der
Erzählung herbeiführt. Im höchsten Schöpferaugenblick aber verdichtet die
Wortfügung sich zum Symbol, — das ist: zu einer Handlung, einem Ereignis, einer
Rede, darin neben der nur tatsächlichen, dem Fortgange der Erzählung dienenden
Bedeutung eine unendliche Sinnbedeutung greifbar mitschwingt und damit alles
Vorhergehende und alles noch Folgende in den Aspekt der Allgemeingültigkeit
erhebt. Daß diese Darstellung des Symbols gelinge, das ist das seltene und
unverkennbare Signum der Dichtung.
    Und doch behaupten wir, daß diese
Briefe ein poetisches Kunstwerk seien? Ein «Kunstwerk des Lebens», das Leben
selbst als Dichter, — gibt es das? Gewiß gibt es auch eine ungeformte Poesie in
den Stimmungen des Lebens, aber sie ist flüchtig, vergänglich wie diese, sie
ist ihrem Wesen nach eben nicht Kunst, ist nicht gebannt ins zeitlos Gültige
und Dauernde. Nun aber lese man dieses Buch mit bewußtem Kunstverstand, mit
kritischem Urteil, und man wird mit Staunen feststellen, daß seine Wirkung der
eines Kunstwerkes genau entspricht. Es handelt sich um die Herzensergüsse eines
Mädchens,
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