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Sommer in Ephesos

Sommer in Ephesos

Titel: Sommer in Ephesos
Autoren: E Schmidauer
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Stadt, die Sehnsuchtsstadt meiner Kindheit. Nimm mich mit, bettelte ich, wenn der Vater wieder fuhr, jedes Mal, nimm mich mit. Ich hatte Bilder gesehen in dicken Bänden, Fotos, die mein Vater gemacht hatte, Filmaufnahmen. Lange, bevor ich dort war, bin ich den Weg durch die Stadt gegangen, und oft. Mein Vater hatte mir die Stadt erzählt, ich wusste, wie die Marmorstraße glänzte, wie der Mohn rot im Frühling blühte, ich wusste es, wie die Kuretenstraße – Kuretenstraße, sagte ich mir leise vor, niemand im Kindergarten, niemand in meiner Klasse kannte solche Wörter – wie die Kuretenstraße zur Bibliothek hinunterführte, wie im Odeion, auf der oberen Agora die reichen Einwohner, die Priester und die Politiker die Zukunft der Stadt besprachen, wie auf der Prozessionsstraße, die vom Artemision zur Stadt führte, weißgekleidete Menschen das Bild der Göttin trugen, die Vielbrüstige, sagte der Vater und die Mutter lachte.
    Da ist nichts zu lachen, sagte der Vater. Das ist ein uralter Kult, ich mochte das Wort »Kult«. Der Göttin ansichtig sein, sagte ich, wie das Kind spricht, sagte der Vater stolz, wenn ich so etwas sagte, ansichtig sein. Ich studierte die Pläne von Ephesos, ich buchstabierte mir die Namen der Gebäude zusammen, P-r-y-t-a-n-e-i-on, O-de-i-on, Ba-si-li-ke Sto-a, meine Zunge stolperte über Lysimachos, Skolastikia, Hypokaustensystem. Ich lernte Reiseführer auswendig, die Räume des Hafenbades, Frigidarium, Apodyterium, Tepidarium. Wenn mein Vater zurückkam, zählte ich ihm die Gebäude auf, der Hadrianstempel, sagte ich, die Hanghäuser, das Oktogon und der Brunnen des Gründers Androklos, die Latrina, das Bordell, die Celsusbibliothek. Hast du gewusst, fragte ich ihn, dass die früher am Klo nebeneinander gesessen sind, ganz ohne Wand dazwischen, ich kicherte, ich möchte auch so ein Klo, sagte ich und wir überlegten, wo denn im Haus noch Platz wäre für eine Latrine. Wenn ich vom Bordell sprach, ärgerte er sich, das ist ein Märchen, sagte er, das erzählen die Reiseführer, weil es die Touristen gerne hören, dort war kein Bordell, völliger Blödsinn. Die Frage nach dem Bordell beantwortete er mit einem langatmigen Exkurs über Prostitution in der Antike, findest du nicht, dass das zu weit geht?, fragte die Mutter, sie ist erst sechs.
    Die Tatsachen des Lebens, sagte mein Vater, kann man gar nicht früh genug erfahren, und dann erklärte er mir, dass es Agorá hieß, Betonung auf dem zweiten a, dass aber Strabo kein Geograpf, sondern ein Geograph gewesen war, das war ein Druckfehler im Reiseführer.
    Wenn ich an Ephesos dachte, sah ich die weißen Segel der Schiffe, die in den Hafen einfuhren und Waren brachten von überall her. Wein in Amphoren und Öl, Getreide und duftende Salben, Ballen von Seide, glänzende Stoffe und Farben, die Stoffe zu färben, Gewürze in Säcken, die rochen betäubend, thasischer Marmor, Elfenbein von den Küsten Afrikas und Zedernholz aus dem Libanon, Gold und Silber und Edelsteine, Bernstein und Pelze und wilde Tiere, das gesamte römische Imperium war auf diesen Schiffen, war in Ephesos.
    Ich dachte mir die weiße Stadt und das bunte Gewühl. In den Nischen, in den Gewölben, in den Tempeln und auf den Straßen ballte sich das Leben, ich sah die Matrosen, die Händler, die Gelehrten, die Soldaten und die Huren, die dachte ich mir in schillernden Gewändern mit einem grellen Lachen, oder sie rochen sanft. Die ehrbaren Frauen, dachte ich, die Vestalinnen, die Sklaven und die Senatoren, die sich auf den Plätzen drängten, die Gladiatoren, die Theaterbesucher, die Handwerker, die Priester und die Prediger. Paulus dachte ich mir, wie er gegen die Göttin wetterte, seine Anhänger und seine Gegner, groß ist die Artemis von Ephesos, schrieen dreißigtausend im Theater. Silberschmiede dachte ich mir, und Johannes und die Gottesmutter, Artemis und Maria, dass sie beide dort gewesen waren, das erstaunte mich, wie kam denn das zusammen.
    Ich liebte die Katzen, die in der alten Stadt lebten, der Vater fotografierte sie für mich. Nachkommen, sagte mein Vater und zwinkerte mir zu, Nachkommen der griechischen Katzen, der römischen Katzen, der orientalischen Katzen, die jahrtausendelang dort gelebt haben. Ich betrachtete sie ehrfürchtig, und ich sah das Griechische, das Römische, das Orientalische in ihren Gesichtern, die waren schmal, ihre Körper waren schlank und ihre Augen standen schräg.
    Im Kindergarten zeichnete ich Frauen mit Brüsten und die Tante
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