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Solarstation

Titel: Solarstation
Autoren: Andreas Eschbach
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toten, zerschmetterten Fleischbrocken, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Im selben Moment wußte ich, daß das keine gute Idee gewesen war. Die Stichwunde in meiner Schulter war wie das Epizentrum eines Bebens, das meinen Körper erschütterte, nur daß es keine Erdstöße waren, die davon ausgingen, sondern lähmende, atemberaubende Wellen von Schmerz.
    Aber es mußte sein. Von allem, was mir geblieben war, war das das einzige, was wenigstens wie eine letzte Chance, wie ein dünner rettender Strohhalm aussah. Selbst wenn es sich dabei um eine Täuschung handelte, konnte ich doch meine letzten Augenblicke ebensogut daran verschwenden wie an irgend etwas anderes. Und so biß ich meine Zähne zusammen in einer Weise, die mein Zahnarzt bestimmt nicht gut gefunden hätte, und schaffte es, die rechte Hand in die Nähe meines rechten Oberschenkels zu bekommen. Während mein Oberarm vollends zu bersten schien, weil er alles war, womit ich mich an meiner Strebe festklammerte, gelang es mir, einige meiner Finger zu bewegen und ein Ende von einem der Klebestreifen zu erfassen, die immer noch auf meinem Oberschenkel klebten.
    Hatte ich geglaubt, Schmerzen zu haben? Den wahren Schmerz lernte ich kennen, als ich die Hand mit dem ersten Klebestreifen nach oben beugte, zu meiner Schulter hin. Plötzlich war da ein daumendicker Strang reinsten glühenden Protoplasmas, so heiß wie reinste Sonnenmaterie, der sich alles versengend meinen rechten Arm entlang bohrte, durch die Schulter hindurch, und in meinem Kopf explodierte. Ich schrie, vierhundert Kilometer hoch über der Erdoberfläche, und niemand hörte mich schreien außer mir selbst. Ich schrie, aber ich packte den Klebestreifen mit der linken Hand und preßte ihn auf den Riß in meinem Raumanzug. Über meinem Kopf fing das zweite rote Licht an zu blinken.
    Wieder nach unten zu greifen und nach dem nächsten Streifen zu angeln war die reinste Erholung. Wieder das glühende Plasma, aber diesmal achtete ich sorgfältiger darauf, das Loch vollständig zu bedecken. Ich bildete mir ein, daß das Zischen leicht nachließ, aber vielleicht kam das auch daher, daß ich von dem enervierenden Alarmton allmählich ertaubte.
    Als ich den dritten und letzten Klebestreifen heranschaffte, tauchte ein dunkler Nebel in meinem Gesichtsfeld auf, der auf beunruhigende Weise realer wirkte als die übrigen Schleier, die meine Sicht trübten. Ich praktizierte das Leukoplast senkrecht zu den beiden übrigen Klebestreifen auf den Anzug, und dabei setzte sich der Nebel an der Innenseite meines Visiers ab. Es war Blut. Mein Blut.
    Höchste Zeit, mich an den Abstieg zu machen. Inzwischen leuchtete das dritte rote Licht, und es handelte sich ja nur um die Kleinigkeit von hundertfünfzig Metern bis zur nächsten Schleuse. Ich würde es nicht schaffen. Mein Körper sagte es mir. Mein Instinkt wußte es. Und das, was von meinem Verstand noch übrig war, wußte es auch. Aber ich war zu erschöpft, um darüber nachzudenken, und machte mich einfach auf den Weg.
    Das Schlimmste war, mich aus meiner Verankerung an der Strebe zu lösen. Wenn ich meinen rechten Arm einfach abgerissen und dortgelassen hätte, wäre es auch nicht schmerzhafter gewesen. Aber als das einmal geschafft war, ging es leichter. Eigentlich war es ja kein Abstieg im herkömmlichen Sinn; nach ein paar Metern hatte ich es einigermaßen heraus, mich allein mit der linken Hand von Haltegriff zu Haltegriff zu manövrieren.
    Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich plötzlich wieder Khalids Stimme in meinem Kopfhörer hörte. Einen Moment hielt ich inne, um mich nach ihm umzusehen. Er hatte inzwischen die Hälfte der Strecke bis zur Solarfläche zurückgelegt, drehte sich immer noch langsam um sich selbst und schüttelte mir dabei drohend seine Fäuste entgegen.
    »Ich bin noch nicht fertig mit dir, Carr!« schrie er, laut genug, um den Alarm zu übertönen. »Ich komme zurück, und dann wirst du für alles bezahlen…!«
    Er beeindruckte mich nicht besonders. Einen Moment lang fragte ich mich dumpf, wie er das anstellen wollte, dann setzte ich mich wieder in Bewegung und konzentrierte alle meine verbliebene Aufmerksamkeit auf die dünnen Streben des Turmauslegers.
    Genauso dumpf wurde mir bewußt, daß wir Mekka überflogen. Ich war zu schwach, zu entkräftet, um über das bloße Registrieren dieser Tatsache hinaus noch zu irgendwelchen Gefühlsregungen imstande zu sein. Ich hätte Freude empfinden können oder wenigstens Genugtuung darüber,
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