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So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock

Titel: So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
Autoren: Melda Akbas
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Sippe. Sie hat ihre eigenen Überzeugungen und vertritt diese engagiert. Dabei kann sie ganz schön hitzköpfig sein. Genauso, wenn Politiker ihrer Ansicht nach mal wieder etwas verbockt haben. Denen wünscht sie schnell mal die Hölle. Doch danach holt sie sofort tief Luft und sagt: »Falls es die Hölle und den lieben Gott denn gibt, was ja nicht bewiesen ist.«
    Es ist wirklich lustig, Tante Zeynep zu beobachten, wenn sie in Wallung gerät. Dann wirkt es immer so, als würden ihre Augen, die im Normalzustand schon ziemlich auffällig sind, noch ein Stück hervortreten. Letztens sprach sie sogar ein Wildfremder an, dem die Veränderung ihrer Augen auch aufgefallen war, und fragte, ob das genetisch bedingt sei. Damit ziehen wir sie jetzt gern auf, aber sie hat genug Humor, um darüber selbst lachen zu können.
    Tante Zeynep feierte gerade ihren fünfundvierzigsten Geburtstag. Vielleicht war es auch ihr vierundvierzigster oder der sechsundvierzigste. Genau weiß sie das nämlich nicht. Nicht einmal der Tag muss stimmen, er stimmt sogar mit ziemlicher Sicherheit eher nicht. Das ist bei meiner Mutter genauso und bei dreien ihrer vier anderen Geschwister auch. Sie alle wurden noch in der Türkei geboren. Offenbar fanden es meine Großeltern nicht wichtig, sich die exakten Geburtsdaten ihrer Kinder aufzuschreiben. Angeblich war das auch nicht üblich. Erst als die Familie nach Deutschland ziehen wollte, benötigte jeder für seine Dokumente einen amtlichen Geburtstag. Großmutter versuchte damals, sich anhand der Ernten an das jeweilige Geburtsjahr zu erinnern. Mal war es eine gute Ernte gewesen, mal eine schlechte. Dann überlegte sie, was gerade
geerntet worden war, Getreide oder Tabak oder Kartoffeln oder Rüben? Auf diese Weise kam sie auf die Jahreszeit, sodass am Ende bei jedem Kind drei Monate zur Auswahl standen. Der Rest wurde nach Gefühl entschieden - und nach praktischen Erwägungen. Meistens wurde der erste Tag eines Monats als »Geburtstag« gewählt, den konnte man sich am leichtesten merken. Und am liebsten der erste Juni. Babas Familie ging mit Geburtstagen übrigens genauso nachlässig um.
    Für Anne und Baba ist ihre für die Behörden ausgedachte Geburt denkbar günstig gefallen. Beide bekamen von ihren Müttern nicht nur das gleiche Jahr ausgesucht, was noch der Wahrheit entsprechen könnte, sondern auch den gleichen Tag, was garantiert nicht stimmt, obwohl selbst das ein großer Zufall wäre, wenn man von der Beliebtheit des ersten Juni nichts wüsste. Auch bei ihnen ist es genau dieser Tag. Ich stelle es mir komisch vor, nicht zu wissen, wann man wirklich geboren wurde. Aber vielleicht gewöhnt man sich daran. Zumindest können sie dadurch ihre Geburtstage immer zusammen feiern, das spart Geld.
    Tante Zeynep ist Lehrerin in Kreuzberg. Leider hat sie keine eigenen Kinder. Wenn ich mit ihr zusammen bin, denke ich oft, dass sie eine großartige Mutter wäre. Ganz gleich, was ich ihr erzähle, sie hört zu, interessiert sich für das, was mich beschäftigt. Und das Beste ist: Bei ihr kann ich so sein, wie ich bin. Ich muss keine Erwartungen erfüllen und nicht aufpassen, dass ich etwas sage, weswegen sie mich vielleicht für undankbar oder gar unsittlich halten könnte. Sie setzt nicht ständig irgendwelche Wertmaßstäbe an, stempelt niemanden ab, bloß weil der anders denkt als sie. Normalerweise kreisen unsere Gesprächsthemen um
ihre Arbeit und meine Schule, um Politik, Liebe und den Sinn des Lebens, also praktisch um alles. Aber heute spricht sie mich gleich auf mein Buch an.
    »Wie weit bist du eigentlich?«, will sie wissen. Im Gegensatz zu sonst klingt ihre Frage nicht neugierig, sondern eher skeptisch. Sie kennt mich eben gut. Und natürlich hat sie mitbekommen, dass ich in den letzten Wochen viel beschäftigt war. Allerdings weniger mit dem Buch als mit Partys und der Einhaltung von irgendwelchen Verabredungen.
    »Nicht besonders weit«, gestehe ich und würde am liebsten das Thema wechseln. Der Abgabetermin drückt, die Zeit rast mir davon, und ich komme viel zu langsam voran. »Mir fehlt einfach die Ruhe. Ich kann mich nicht konzentrieren. Zu Hause stört ständig jemand, und wenn mir ein guter Einfall kommt, sitze ich gerade im Unterricht und kann nichts damit anfangen.« Klingt doch plausibel, und irgendwie stimmt es sogar - aber nur zur Hälfte. Schnell spieße ich etwas von meinem Obstsalat auf die Gabel, stopfe es in den Mund, um über die andere Hälfte nicht sprechen zu
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