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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt
Autoren: Ana Veloso
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1916
    1
    S chwerfällig sank José Carvalho in den Ledersessel vor dem Kamin. »Einen Brandy, schnell!«, rief er dem Dienstmädchen zu, das ängstlich an der Tür zum Salon auf Anweisungen gewartet hatte. Sie goss ihrem Patrão eine großzügige Dosis ein und reichte ihm das Glas mit zitternden Händen. Die Launen des Senhor Carvalho ängstigten sie zu Tode.
    »Glotz mich nicht an, als wärst du eine Kuh! Los, verschwinde!«, herrschte er das Mädchen an.
    Anunciação stolperte davon. Tränen waren in ihre Augen getreten, so dass sie nur schemenhaft die Senhora wahrnahm, die ihr auf dem Flur entgegenkam.
    Dona Clementina ließ sich ihre Verwunderung nicht anmerken, weder die über das Verhalten des Dienstmädchens noch die über das frühe Erscheinen ihres Mannes. Normalerweise ließ er sich vor Sonnenuntergang nicht im Haus blicken. Es musste etwas wirklich Außergewöhnliches vorgefallen sein, wenn ihr Gatte sich freiwillig so zeitig von den anderen Schwadroneuren im Café »Luíz da Rocha« verabschiedet hatte. Wie um sich für die Begegnung mit ihrem offensichtlich aufgebrachten Mann zu rüsten, hob Dona Clementina das Kinn, strich in einem Reflex ihr dunkelblaues und makellos gebügeltes Wollkleid glatt und setzte eine verständnisvolle Miene auf. José hasste neugierige Frauen – mit keiner Silbe und mit keinem fragenden Ausdruck auf ihrem aristokratischen Gesicht würde sie ihm ihre wahre Gefühlslage preisgeben. Dona Clementina verging schier vor Neugier.
    »Mein Lieber, wie schön, dass du schon zu Hause bist!«, begrüßte sie ihn. Sie beugte sich über die Kopflehne seines Fauteuils und hauchte die Andeutung eines Kusses auf seine Stirn. »Muss ich mir Sorgen wegen deines frühen Kommens machen? Geht es dir gut? Deine Stirn fühlt sich heiß an.« Manchmal wunderte Clementina sich über sich selbst. Wie glatt ihr diese kleinen Lügen inzwischen über die Lippen gingen! Vor 24  Jahren, als Frischverheiratete, wäre sie nicht nur dabei errötet, sondern hätte anschließend ihr Vergehen auch dem Padre Alberto gebeichtet.
    José Carvalho stierte auf die flackernden Holzscheite. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Cognacschwenker, bevor er schließlich, wie zu sich selbst, sprach.
    »Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Nur um die Monarchie. Dom Carlos ist tot. Und der Thronfolger ebenfalls. Am helllichten Tage erschossen, in ihrer Kutsche.«
    »Mein Gott!« Dona Clementina bekreuzigte sich und sank in den zweiten Sessel, der vor dem Kamin stand. »Der König, tot! Und der Infante Luís Filipe! Heilige Muttergottes, was für eine Tragödie!« Sie erhob sich und goss sich ebenfalls einen Brandy ein, ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Nachricht sie zutiefst erschüttert hatte. Sie trank sonst nie etwas Stärkeres als Süßwein, und den auch nur bei besonders festlichen Anlässen.
    »Dieses Republikaner-Pack!« Hasserfüllt schüttelte José den Kopf.
    »Wer sind denn die Mörder? Hat man sie schon gefasst?«
    »Gefasst? Die königliche Garde hat sie auf der Stelle erschossen!«
    Dona Clementina nickte und bemühte sich, ihre Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. Sie würde sich nicht durch dumme Fragen den Unmut ihres Mannes zuziehen. Sie wusste, dass José ihr von sich aus früher oder später die ganze Geschichte erzählen würde. Er gab sich gern weltgewandt und politikerfahren, obwohl er von den Geschehnissen in Portugal und der Welt nicht mehr verstand als das, was ihm der Redakteur Isidoro Vieira vom Lokalblatt
O Bejense
erzählte. Und Isidoro wiederum, vermutete Clementina, schrieb alles aus den großen Lissabonner Zeitungen ab.
    Sie selber hatte nicht viel für Politik übrig, wie sie sich auch für sonst nichts sonderlich interessierte, was nicht direkt sie selber, ihre Familie oder ihren Besitz betraf. Dieses Attentat jedoch empfand sie als unmittelbare Bedrohung. Wenn, wie sie es bereits 1892 erlebt hatte, ein Staatsbankrott die Folge der Umsturzversuche wäre, dann würden auch sie es zu spüren bekommen. Ihre Réis wären dann im Ausland so wertlos, dass sie bei ihren Reisen nach Paris, London oder in andere europäische Metropolen nicht mehr jedes Stück würde kaufen können, das ihr oder einer ihrer Töchter gefiel. Aussteuertruhen von Louis Vuitton, Tafelsilber von Christofle, Waterford-Kristallkelche, die zarte, spitzengesäumte Leibwäsche aus dem Hause Montfort, gewagte Hüte von der renommiertesten Hutmacherin in ganz Berlin oder handgeschöpftes
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