Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
palavernder Männer, offensichtlich angetrunken, schwankte über die Rua Principal in ihre Richtung. Sogleich verzogen sich die Kinder wieder in die Mauernische. Das war zu viel für Jujús Selbstbeherrschung. Ihre Zähne begannen zu klappern.
    »Hier, du Mimose.« Fernando nahm sein Lammfell ab und legte es Jujú um die Schultern.
    Dankbar sah sie ihn an. Sie wusste, dass er wusste, warum sie zitterte. Bestimmt nicht vor Kälte – es war zwar frisch, doch so eisige Temperaturen wie in der vergangenen Woche herrschten nicht mehr. Aber das Fell, unter dem beinahe ihr ganzer schmächtiger Körper verschwand, bot ihr mehr als nur wohlige Wärme. Wenn sie es über den Kopf zog, wäre sie in Sicherheit.
    Einige Minuten lang schwiegen die beiden Kinder. Jujú dachte an das Festessen, das auf Belo Horizonte heute gegeben wurde, und es wollte ihr beim besten Willen nicht mehr einfallen, wie sie freiwillig darauf hatte verzichten können. In dieser »denkwürdigen Nacht«, wie ihre Mutter es genannt hatte, hätte sie ausnahmsweise einmal länger aufbleiben dürfen, doch sie hatte es vorgezogen, sich müde zu stellen. Mariana, die ein Jahr älter als sie war und die, wenn sie nicht gerade aß, immerzu schlief oder döste, hatte sich bereits ins Bett gelegt, und Jujú hatte den Eindruck, dass die Erwachsenen sowie ihre anderen beiden Schwestern insgeheim erleichtert waren, die beiden »Kleinen« los zu sein.
    Es war lächerlich leicht gewesen, aus dem Fenster zu klettern und durch den Obstgarten zu dem Weg zu schleichen, an dem Fernando und sie sich verabredet hatten. Sogar ein paar Münzen hatte sie vorher aus der Börse ihrer Mutter stibitzen können, so wie Fernando es ihr aufgetragen hatte. Jujú wusste, dass das eine Sünde war. Das Abenteuer jedoch, das ihr Fernando für diese Silvesternacht versprochen hatte, war ihr jede Sünde wert gewesen. Jetzt allerdings zweifelte sie an der Richtigkeit – und dem Sinn – ihres Vorhabens.
    Fernando war ebenfalls nicht mehr überzeugt von seinem eigenen Plan. War es ihm noch heute Nachmittag völlig unkompliziert erschienen, einfach das Maultier zu nehmen und darauf mit Jujú die wenigen Kilometer bis Beja zurückzulegen, so hielt er es jetzt für eine blöde Idee. Es war zwar unwahrscheinlich, dass seine und die Abwesenheit des Tieres bemerkt werden würden, doch das allein war ja kein Grund für einen Ausflug wie diesen. Sie wollten in Beja das Feuerwerk sehen, sie wollten die Kapelle spielen hören und sich bei den Zigeunern umsehen – und das alles war kaum zu bewerkstelligen, wenn sie sich vor Entdeckung fürchten mussten. Jujú würde Stubenarrest bekommen und er selber eine so heftige Tracht Prügel, dass er noch tagelang blaue und grüne Flecken hätte, für die ihn wiederum die anderen Kinder hänseln würden.
    Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, ein wenig von dem bunten Treiben in dieser Nacht mitzuerleben, so war das Abenteuer damit längst nicht überstanden. Der Rückweg würde noch beschwerlicher sein als der Hinweg. Der Mond spendete nur wenig Licht, das Maultier würde nach den ungewohnten Geräuschen eines Feuerwerkes noch bockiger sein als vorher, und Jujú würde sich so fest an ihn klammern, dass er kaum Luft bekam.
    Aber sollten sie es wirklich bis hierher geschafft haben, ohne sich auch nur ein winziges bisschen zu amüsieren? Eine Idee nahm in Fernandos Kopf Gestalt an: Vielleicht konnte er allein kurz zu den Zigeunern huschen und wenigstens ein Andenken an diese Nacht mitnehmen. Jujú würde ihn dafür hassen, dass er sie allein ließ, und sei es nur eine Viertelstunde, aber mit ihr zusammen zu gehen wäre zu gefährlich.
    »Gib mir einen
tostão
«, raunte er ihr zu.
    »Wofür?« Jujú warf ihren langen Zopf nach hinten und starrte den größeren Jungen mit dem ganzen Stolz ihrer sieben Jahre an. Fernando erwiderte ihren herausfordernden Blick nicht. In gespieltem Desinteresse kratzte er mit einem Stöckchen Muster in den staubigen Boden. »Gute Frage. Gib mir lieber zwei
tostões

    In der Ferne hörte man die blecherne Musik der Blaskapelle, die vor dem Rathaus aufzuspielen begann.
    »Was willst du denn damit?«
    »Weißt du nicht, was heute für eine Nacht ist?«
    »Es ist Silvester?«
    »Ja, aber diesmal ist es ein besonderes Silvester. Morgen fängt ein neues Jahrhundert an.«
    Jujú riss ihre Augen auf. »Und dafür muss man Eintritt bezahlen?!«
    »Nein. Aber für zwei Kupfermünzen kaufe ich uns das ganze Jahrhundert.«

[home]
1908 –
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher