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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön
Autoren: Inge Löhnig
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Fassungslosigkeit. Erst im Internat hatte Stefanie die Folgen dieses Schlags bemerkt. Jobst hörte auf dem linken Ohr fast nichts mehr und trug seitdem das Hörgerät.
    Seufzend wandte sie sich um, ging im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich wieder ans Bett. Der Verband am Kopf leuchtete weiß, die Augen waren geschlossen. Der Gedanke, dass Jobst sterben würde, nahm sich Raum.
    Vielleicht war es besser so.
    Jobst ein Frauenmörder. Welche Kräfte mussten in ihm gearbeitet haben? Welch ein Hass, diese Grenze zu überschreiten und Frauen zu töten.
    Hätte sie doch nur nicht tatenlos zugesehen, wie er sich mehr und mehr in diese Affenliebe zu seiner Mutter hineinsteigerte. Aber was hätte er anderes tun können, als sich seine Welt schön zu machen? Und die wenigen Male, als Susanne zu Besuch gekommen war, ihn mit in den Urlaub oder nach Hause genommen hatte, war er so glücklich gewesen, hatte monatelang davon erzählt, die Erinnerungen gehütet wie einen Schatz. Hätte sie ihm das nehmen sollen? Niemals hätte sie das gekonnt.
    Was ist schon dabei?, hatte sie gedacht. Wie alle Kinder braucht er eine liebende Mutter. Und da er sie nicht hat, erschafft er sie sich eben.
    Die Erkenntnis, dass seine Mutter ihn misshandelt, missbraucht und dann abgeschoben hatte, musste für Jobst unerträglich gewesen sein. Ein nicht auszuhaltender Schmerz, den er mit schönen Erinnerungen verkleidete und so unsichtbar machte.
    Doch irgendwo in ihm wohnte der Hass auf Susanne. In einer verborgenen Kammer, hinter verriegelten Türen. Wäre er doch nur dort geblieben!
    Immer hatte er sich für Schönheit interessiert. Für Malerei und Literatur, für Fotografie und Musik. Hatten sie die ohnmächtige Wut in ihm nicht besänftigen können? Offenbar nicht. Vermutlich eher im Gegenteil. Sie waren zum Transportmittel geworden. Baudelaires Gedichte. Les Fleurs du Mal. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, als er das damals verschlungen hatte. Immer und immer wieder. Das war doch ganz normal in diesem Alter.
    Wie hätte sie ahnen können, dass er eines der Gedichte benutzte, um seinen Schmerz, seine Ohnmacht und seinen Hass darin zu verbergen? Wie hätte sie ahnen können, dass er es erschaffen, dass er sich rächen, dass er es den Frauen heimzahlen wollte und doch dabei nur eine meinte: seine Mutter.
    Wieder griff sie nach seiner Hand. Was er getan hatte, war schrecklich, grauenhaft, unvorstellbar, aber es war nicht rückgängig zu machen. Erklärungen nützten niemandem. Sie würden nur die Neugier befriedigen und die Sensationslust. Die Presse würde sich darauf stürzen, Boulevardblätter ihre Auflagenzahlen steigern, Fernsehsender ihre Quoten. Sacht drückte sie seine Hand. Ich habe dich immer beschützt, dachte sie, und das werde ich auch über deinen Tod hinaus tun.
    ***
    »Von wem stammt die Information über Werneggs Aufenthalt in Australien?« Dühnfort saß mit Alois in der Kantine bei einem Espresso, den er am liebsten in die Hydrokultur des Ficus benjamini gekippt hätte. Was du nicht willst, das man dir tut … Er schob die Tasse an den Tischrand.
    »Von seiner Sekretärin.« Alois lehnte sich scheinbar entspannt im Stuhl zurück, verschränkte jedoch die Arme vor der Brust.
    Vermutlich stand das so in der offiziellen Vita Werneggs, überlegte Dühnfort. »Und weshalb hast du das nicht verifiziert?«
    »Verifiziert?« Es klang wie ein Schimpfwort. »Weshalb hätte ich das tun sollen? Er stand nie im Zentrum unserer …«
    »Herrgott, weil man das nun mal so macht. Weil man Informationen überprüft. Das ist unser Job.« Dühnfort zwang sich zur Ruhe. »Er war von Anfang an im Blickfeld. Erst sein Auslandsaufenthalt …«
    »Er war nie wirklich verdächtig. Okay? Wenn wir jedes Fitzel verifizieren wollten, dann bräuchten wir zwanzig Mann extra, die …«
    »Er war lange nicht verdächtig, weil er wegen dieses Auslandsaufenthalts nicht in Frage kam, erst …«
    »Bis dann du gekommen bist, der geniale Ermittler, der die Bedeutung dieses Gedichts erkannte. Wir verneigen uns alle in Ehrfurcht.« Der Tonfall war übertrieben zynisch.
    Dühnfort schob den Stuhl zurück und stand auf. »Wir reden morgen weiter. Um neun in meinem Büro. In aller Ruhe und sachlich. Kühl dich bis dahin ab!« Ohne ein weiteres Wort verließ Dühnfort die Kantine. Herrgott! Alois!
    Auf dem Weg ins Büro erreichte ihn der Anruf von Susanne. Im Treppenhaus stehend, sah er durch das Fenster auf die hereinbrechende Dunkelheit, die Lichter der Stadt und
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